Der italienische Regisseur Simone Bozzelli gewinnt beim Filmfestival Locarno 2023 mit dem Drama „Patagonia“ den Preis der Ökumenischen Jury. Der Film bewege sich „zwischen Gewalt und Zartheit, Obsessivität und Selbstentdeckung“, schreibt die Jury. Mit einer „Lobenden Erwähnung“ wurde der in Schwarz-weiß gedrehte Film „Do Not Expect Too Much Of The End Of The World“ von Radu Jude ausgezeichnet. Zum 50. Jubiläum der Ökumenischen Jury erhielt István Szabó einen Ehrenpreis für sein Lebenswerk.
In „Patagonia“ geht es um eine ungleiche Beziehung zwischen zwei Männern. Der unsichere Yuri trifft bei einem Kindergeburtstag auf den Clown Agostino. Für den knapp 20-jährigen Yuri geht von dem mysteriösen Freigeist Agostino eine magische Anziehung aus. Kurzerhand kehrt er seinem Alltag den Rücken, steigt zu Agostino ins Wohnmobil und lässt sich von ihm in die Welt der fahrenden Schausteller und Artisten entführen.
Die Geschichte dieser Beziehung ist schmerzhaft anzuschauen, weil sie voller Doppeldeutigkeit ist. Agostino nutzt Yuri aus, zeigt sich dominant und beschützend zugleich. Für den jungen Yuri ist es eine Achterbahn der Gefühle. Die Figuren-Konstellation erinnert dabei mitunter an Fellinis „La Strada“. Doch trotz aller Ambiguität gelingt es dem Film, die ungleiche Beziehung in eine überzeugend menschliche Geschichte zu fassen.
„Ihre Beziehung führt beide auf eine
gefährliche Reise zu sich selbst. ,Patagonia‘ bewegt sich zwischen Gewalt und
Zartheit, Obsessivität und Selbstentdeckung. Der Film entlässt in einen
mehrdeutigen Raum, in dem Verwandlung und Hoffnung möglich sind“, schreibt die
Jury in ihrem Laudatio.
Selbstreflexive Kapitalismuskritik
Neben „Patagonia“ hob die Jury den rumänischen Film „Do Not Expect Too much of the End of the World“ von Radu Jude mit einer „Lobenden Erwähnung“ hervor. Im Mittelpunkt des Films, in dem es um ein anspruchsvolles Gesellschaftsporträt geht, steht die Casting-Assistentin Angela. Tag und Nacht fährt sie für eine Produktionsfirma durch Bukarest und sucht nach authentischen Darstellern für einen Imagefilm. Dabei nimmt sie aggressiv‐obszöne TikTok‐Videos auf, um ihren Frust zu kanalisieren.
„Am Ende steht eine Filmproduktion, in der Ausgebeutete für das „Whitewashing“ eines westeuropäischen Versicherungskonzerns instrumentalisiert werden“, heißt es in der Jurybegründung. „Regisseur Radu Jude kombiniert brillant verschiedene Zeitebenen und Medienformate. Die in Schwarz‐weiß gedrehten Sequenzen des zentralen Handlungsstrangs werden dabei von einem historischen rumänischen Farbfilm unterbrochen, in dessen Mittelpunkt ebenfalls eine Taxifahrerin mit ihren existenziellen Fragen steht. Der Film besticht durch konzise Kapitalismuskritik und seinen selbstreflexiven Modus.“
Im Jahr 1973 vergab erstmals eine Ökumenische Jury bei einem internationalen Filmfestival einen Preis. Locarno ist deshalb das erste Festival, das die christlichen Filmorganisationen SIGNIS und INTERFILM in einer gemeinsamen Jury zusammenführte. Zum 50. Jubiläum haben die Organisationen den Regisseur István Szabó zum Filmfestival eingeladen. Er erhielt am 8. August 2023 den Ehrenpreis der Ökumenischen Jury für sein Lebenswerk.
Seinen internationalen Durchbruch gelang Szabó mit „Mephisto“ (1981), mit dem er einen „Oscar“ gewann. Bereits einige Jahre früher hatte ihn die Ökumenische Jury von Locarno entdeckt, die 1974 seinen Film „Feuerwehrgasse 25“ auszeichnete. István Szabó war zu dieser Zeit ein wichtiger Vertreter der „Neuen ungarischen Welle“.
Beim diesjährigen Filmfestival nahm István Szabó an einem Podiumsgespräch mit Ingrid Glatz, Marie-Therese Mäder und Joachim Valentin teil und sprach über „Film, Kultur und Spiritualität“. Im Rahmen einer Sondervorführung zeigte Szabó auch seinen jüngsten Film „Final Report“ (2020).
Mitglieder der Ökumenischen Jury in Locarno 2023 waren Petra Bahr, Marie-Therese Mäder, Micah Bucey und Joachim Valentin.