Eine Vorreiterin
Die Väter des Kinos, die Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts den Weg dafür ebneten, dass der Film zum neuen Massenmedium wurde, kennen filmhistorisch Interessierte aus den gängigen Nachschlagewerken: Da sind die Brüder Skladanowsky und die Brüder Lumière, die 1895 erste Filmvorführungen veranstalteten, Thomas Alva Edison mit seinem Kinetograph und Kinetoskop, der „Magier“ und Filmtrick-Pionier Georges Méliès oder David Wark Griffith, der als Erfinder der Grammatik des Erzählkinos gilt. Dass an ihrer Seite auch eine Frau wirkte, war dagegen lange weitgehend vergessen. Dabei inszenierte Alice Guy, verheiratet Alice Guy-Blanché, ab 1896 (als ihr erstes Werk gilt „La fée aux choux“, „Die Kohlfee“) hunderte von kurzen Filmen und schließlich auch erste Langfilme. Als Mitbegründerin und -besitzerin des Filmstudios Solax, das sie 1910 zusammen mit ihrem Mann, dem Kameramann Herbert Blanché, nach ihrem Umzug von Frankreich in die USA ins Leben rief, war sie zudem auch als Produzentin eine Vorreiterin.
Dazu, dass man sich schließlich doch wieder an sie erinnerte, haben nicht nur ihre eigenen, posthum in den 1970er-Jahren veröffentlichten Memoiren beigetragen, sondern schließlich auch filmwissenschaftliche Forschungen, die Wiederentdeckung und -aufführung von Alice-Guy-Filmen und diverse Würdigungen anderer Filmemacher:innen (wie der Spielfilm „Alice Guy-Blanché“ von Katja Raganelli, 1996, oder die Doku „Be Natural“ von Pamela B. Green, 2018). Das Gespann Catel Muller und José-Louis Bocquet, das in seinen gemeinsamen Graphic Novels zuvor schon an historische Frauenfiguren wie die Künstlerin Kiki, die Tänzerin Josephine Baker oder die Autorin und Frauenrechtlerin Olympe de Gouges erinnert hat, trägt nun das seine dazu bei, Alice Guys Ruhm auch jenseits der Filmhistoriker-Kreise zu mehren – und leistet in seiner epischen 400-Seiten-Comicbiografie noch viel mehr: Das Buch verbindet elegant Guys aufregende Vita mit einer facettenreichen Technik- und Kulturgeschichte des frühen Kinos.
Vom Filmfieber gepackt
Dabei folgen
sie chronologisch den Stationen des Lebens der Filmpionierin. Der ausführliche Blick
auf Guys Kindheit liefert sowohl den Hintergrund für ihre persönliche Entwicklung
als auch ein Gefühl fürs Leben und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der
Belle Époque. Guys erste Schritte in Richtung Film zunächst als Stenotypistin,
dann als immer wichtigere, einflussreichere Mitarbeiterin für den Unternehmer
und Erfinder Léon Gaumont – Hersteller fotografischer Apparate und Gründer des ältesten
noch heute aktiven Filmstudios der Welt – entfalten sich als „Bildungsroman“ der
als höhere Tochter geborenen, das Theater liebenden und durch den Tod des Vaters
in materielle Bedrängnis geratenen und zur Selbstständigkeit heranreifenden Mademoiselle
Guy. Sie liefern zugleich aber auch den Anlass, ausführlich darauf einzugehen,
wie Ende des 19. Jahrhunderts verschiedene Erfinder und Firmen darum
konkurrieren, den Bildern das Laufen beizubringen und daraus Kapital zu
schlagen.
Dass die Firma Gaumont früh wittert, dass das Geschäft der Zukunft nicht nur in der Herstellung und dem Verkauf von Aufnahme- und Projektionsgeräten für das neue Medium liegt, sondern in der Produktion eigener Filme, würdigen die Autoren als Leistung der vom Filmfieber gepackten Alice, die darin auch den perfekten Freiraum für ihre eigene berufliche Entfaltung findet und als Regisseurin und Studioleiterin in den nächsten Jahren eine verblüffende Produktivität und Kreativität entfaltet.
Alice im Wunderland einer neuen Kunstform
Der Erzähltonfall der Graphic Novel ist, während sie Guy die Karriereleiter hinauffolgt, ganz vom Enthusiasmus fürs Kino geprägt – Alice Guy als eine moderne Alice im Wunderland einer neuen Kunst voller noch unentdeckter, spannender Möglichkeiten. Dass eine Karriere wie ihre zu ihrer Zeit auch viele Kämpfe erfordert hat, klingt zwar immer wieder an an, steht aber nicht im Zentrum des Buchs.
„Es gibt nichts beim In-Szene-setzen eines Films, was eine Frau nicht genauso leicht vollbringen könnte wie ein Mann, und es gibt keinen Grund dafür, warum sie nicht alle technischen Voraussetzungen dieser Kunst meistern können sollte“: Dieses weibliche Selbstvertrauen, von Alice Guy 1914 in einem Text für „The Moving Picture World“ formuliert und sowohl im Vorwort der deutschen Ausgabe der Graphic Novel von Sven Jachmann als auch im Buch selbst heranzitiert, lebt Alice Guy, wie das Buch sie zeichnet, mit nonchalanter Selbstverständlichkeit. Die strukturelle Ungleichheit an, mit der sich Alice als Frau arrangieren muss, klingt nichtsdestotrotz immer wieder an.
Einblicke in ein faszinierendes Oeuvre
Der Schwerpunkt des Buches liegt auf Guys Biografie in deren Verquickung mit der Geschichte des frühen Kinos – als Nebenfiguren tritt von Georges Méliès über Louis Feuillade bis hin zu Charlie Chaplin und Buster Keaton ein ganzer Reigen historischer Figuren auf. Doch auch der Blick auf beziehungsweise in Guys filmisches Werk selbst spielt in die Handlung hinein – wobei die Filmbilder visuell dezent von der Lebensgeschichte abgehoben werden: Während letztere mit dem für Catel typischen, feinen schwarzen Strich dargestellt wird und dunklere Flächen mit reinem Schwarz oder Schraffuren herausgearbeitet werden, sind die Filmbilder in weicherem Graphitstift-Grau gezeichnet, wie von einem Sepia-Schmelz berührt. Alice Guys Debütwerk über die „Kohlfee“ wird so ebenso gewürdigt und vor Augen geführt wie die eingangs herbeizitierte Feminismus-Komödie oder ihr in den USA entstandener Film „A Fool for His Money“ (1912), mit dem Alice Guy einmal mehr zur Pionierin wurde, weil sie es wagte, den Film mit einem rein afroamerikanischen Ensemble zu besetzen.
Am Ende des Buchs steht dann – nach einem größeren Zeitsprung von ihrem Karriere-Ende in den 1930er-Jahren bis in die 1960er-Jahre – ein Blick auf die alte Alice Guy: gebrechlich, fast vergessen, aber von Catel & Bocquet trotzdem als eine ungebrochene Geschichtenerzählerin gezeichnet: Engagiert versucht sie, den Schatz ihrer eigenen Erinnerungen an die Kindertage des Kinos an die nächste Generation weiterzugeben. Dass sie nun zur (Super-)Heldin einer Comic-Hommage geworden ist, hätte Alice Guy wahrscheinlich diebisch gefreut.
Zum Buch:
Catel & Bocquet: "Alice Guy - Die erste Filmregisseurin der Welt". Deutsche Ausgabe: Splitter Verlag, April 2023. Hardcover, 400 S., 45 Eur.
Neben einem Vorwort von Sven Jachmann zu Alice Guy und ihrer Rezeption umfasst das Buch zusätzlich zur Comic-Biografie einen umfangreichen Angang. Eine ausführliche chronologische Übersicht versammelt die wichtigsten Daten zum Leben und Werk Guys sowie wichtige Daten aus Kino- und Zeitgeschichte. Und zahlreiche Kurzbiografien liefern kompakt Auskünfte und Einordnungen zu den verschiedenen historischen Figuren, die in der Biografie auftreten.