Studio Ghibli hat mit Anime-Werken wie „Chihiros Reise ins Zauberland“ und „Die letzten Glühwürmchen“ Filmgeschichte geschrieben und wesentlich dazu beigetragen, der japanischen Animationskunst internationale Wahrnehmung und Anerkennung zu verschaffen. Ein reich bebilderter Band widmet sich den Kinofilmen des wegweisenden Studios und seinen Gründervätern Hayao Miyazaki und Isao Takahata.
Seit 1997 gibt Hayao Miyazaki, der inoffizielle
Repräsentant der Ghibli-Studios, nach jedem neuen Film, den er selbst als Regisseur
inszeniert, öffentlich bekannt, dass dies sein letzter gewesen sei. Und dann
kommt doch noch einer: 2001, 2004, 2006 und auch 2013, als er ankündigte, dass
sein Film „Wie der Wind sich hebt“ auch wieder sein letzter
gewesen sein soll. Für Sommer 2023 ist nun der neue „letzte“ Film des
inzwischen 82-jährigen Anime-Regisseurs, „How do you live?“,
angekündigt.
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Es ist kein Wunder, dass seit Jahren darüber diskutiert wird, wer
im künstlerischen Sinne die Nachfolge von Hayao Miyazaki antreten könne. Ganz
oben auf der Liste der Anwärter steht Makoto Shinkai („Your Name“,
„Weathering with you“). Im April 2023 ist nun Shinkais neuer Anime „Suzume“
in den deutschen Kinos gestartet. Hierzulande ist er, ähnlich wie andere
Animes, trotz der internationalen Erfolge von Ghibli-Animes immer noch ein „Special
Interest“-Start.
In Japan hat Makoto Shinkai mit „Suzume“ jedoch wieder seine eigenen Box-Office-Rekorde übertroffen: das kollektive Traumabewältigungs-Spektakel um das titelgebende 17-jährige Mädchen Suzume sahen über 9 Millionen Japaner:innen im Kino. Für das aufmerksame Publikum hatte Shinkai einen kleinen Cameo-Auftritt eingebaut: Die Stadt, in der Suzume lebt, heißt Miyazaki. Die Namensgebung ist für Anime-Kenner unschwer als Verbeugung vor dem großen Meister Hayao Miyazaki zu erkennen.
Eine Passage durch die 24 Kinofilme des Studios
Die prägende Künstlerpersönlichkeit Miyazaki spielt auch eine
wesentliche Rolle in der „Ghibliothek“, einem „inoffiziellen Guide zu den
Filmen von Studio Ghibli“, wie es im Untertitel heißt. Neben Miyazaki steht
natürlich sein Kompagnon Isao Takahata im Zentrum des von Michael
Leader und Jake Cunningham herausgegebenen Bandes, der auf Deutsch bei dem
Comicverlag Panini erschienen ist. Die Regisseure Miyazaki und Takahata haben
Ghibli 1985 gemeinsam mit dem Produzenten Toshio Suzuki gründet. Miyazaki und
Takahata zeichnen mit Abstand bei den meisten der 24 Langfilme des Studios für
die Regie verantwortlich: Miyazaki führte zehn Mal Regie und schrieb zu drei
weiteren Filmen das Drehbuch, der 2018 verstorbene Takahata führte sechs Mal
Regie. Die „Ghibliothek“ hangelt sich chronologisch durch die 24 langen
Kinofilme des Studios, die in den vergangenen knapp 40 Jahren entstanden sind.
Wie so viele Ghibli-Experten zählen die Autoren auch den 1984 entstandenen Film
„Nausicaä aus dem Tal der Winde“ zur Studiogeschichte, weil der
Erfolg des Films, den Miyazaki geschrieben und inszeniert und Takahata
produziert hat, direkt zur Gründung des Studios führte.
Dass Takahata bereits seit den 1960er-Jahren viele Serien für das Fernsehen realisierte (unter anderem auch die hierzulande 1977 erstmals ausgestrahlte Serie „Heidi“ von 1974, für die auch Miyazaki als Assistent arbeitete) und Miyazaki seit den 1970er-Jahren für Fernsehserien wie „Lupin III.“ Regie führte, wird nur kurz angerissen. Das Buch konzentriert sich ganz auf die langen Kinofilme von Studio Ghibli (Kurz- und Werbefilme bleiben außen vor) und hat eine klare Struktur: Der langjährige Ghibli-Fan Michael Leader liefert zu jedem Spielfilm vier bis sechs Seiten Informationen und Bildmaterial, gefolgt von einem zweiseitigen Kommentar von Jake Cunningham.
Die Rollenverteilung hatten die beiden Autoren bereits bei ihrem Podcast „Ghibliotheque“ etabliert. In beiden Textformaten fließen immer wieder zahlreiche Informationen und Zitate ein – sei es zur Entwicklung und Produktion der jeweiligen Filme oder zu deren Wirkungsgeschichte. So erfahren die Leser:innen von Erfolgen und Misserfolgen, Personalien und Konkurrenzsituationen innerhalb des Studios (zwischen Takahata und Miyazaki, aber auch zwischen Miyazaki und seinem Sohn Gorō).
Vom Eigenleben von Totoro und Co.
Auf den 190 Seiten der „Gibliothek“ lassen die Autoren den Ghibli-Kosmos aus europäischer und asiatischer Kultur und Natur, aus Geister- und Märchenwelt sowie Retro- und Hightech-Futurismus, aus Dystopie und Utopie auferstehen. Wir erfahren außerdem von dem Eigenleben, das manche der fantastischen Filmcharaktere und -orte, die in Ghibli-Filmen erschaffen wurden, in der Breite der japanischen Gesellschaft entwickelt haben – zum Beispiel das Ohngesicht aus „Chihiros Reise ins Zauberland“ oder das wandelnde Schloss aus dem gleichnamigen Film. So erfährt man etwa auch, dass der große Totoro aus „Mein Nachbar Totoro“ aus dem Jahr 1988 – ein Geisterwesen, das nur Kinder wahrnehmen können und aussieht wie eine Mischung aus Eule, Hase, Katze und Waschbär – in Japan inzwischen als eine Art Nationalheiligtum verehrt wird und als Motiv auf so gut wie allen käuflichen Produkten zu haben ist.
Ein Gefühl der Befreiung
Nicht zuletzt kommt die „Ghibliothek“ auch immer wieder auf den Kern aller Filme des Studios zurück, den Miyazaki einmal mit dem Anliegen umschrieben hat, „der heutigen Jugend, die in dieser erdrückenden und überbehütenden und reglementierten Gesellschaft keine Möglichkeit hat, sich ein unabhängiges Leben aufzubauen, und neurotisch geworden ist, ein Gefühl der Befreiung zu geben“. Ein Zitat, das sich der mögliche Miyazaki-Erbe Makoto Shinkai offensichtlich auch für seinen neuesten Film „Suzume“ zu Herzen genommen hat. Mit „Suzume“ lief 20 Jahre, nachdem Miyazakis „Chihiros Reise ins Zauberland“ bei der Berlinale im Wettbewerb den „Goldenen Bären“ gewann, in diesem Jahr erstmals wieder ein Anime in der Konkurrenz um den „Goldenen Bären“. Shinkais „Your Name“ hatte 2016 „Chihiro“ nach 15 Jahren vom Thron des erfolgreichsten Animes aller Zeiten gestürzt. Und so hat Shinkai auch einen gebührenden Platz in „Die Anime Bibliothek“ gefunden, dem Nachfolgeprojekt von Michael Leader und Jake Cunningham, das zeitgleich zur „Ghibliothek“ ebenfalls auf Deutsch im Panini Verlag erschienen ist.