Der schwedisch-ägyptische Regisseur Tarik Saleh greift in „Die Kairo Verschwörung“ (jetzt im Kino) einmal mehr die brenzlige Lage in Ägypten nach dem „Arabischen Frühling“ auf. Innerhalb der ehrwürdigen al-Azhar-Universität entspinnt sich ein Machtkampf um die Wahl eines neuen Großimams, bei dem auch ein junger Student in die Umtriebe des Geheimdienstes hineingezogen wird. Ein Gespräch über die Nachfolger von Pharaonen und Priester, die Dialektik von Autorität und Bildung und Genrefilme als Diamanten des Kinos.
Sie sind Ägypter, Ihre Mutter ist Schwedin, Sie leben in Schweden, dürfen aber nicht nach Ägypten reisen. Könnten Sie etwas über sich selbst erzählen und über das Gefühl, zwischen zwei Ländern hin- und hergerissen zu sein?
Tarik Saleh: Ich wurde in Schweden als Sohn eines Ägypters und einer Schwedin geboren. Das erste Mal, dass ich nach Ägypten kam, war ich schon zehn Jahre alt. Ich wuchs mit meinem Vater auf, der mir anstatt Gutenachtgeschichten immer von Ägypten erzählte. So wurde es für mich eine Fantasie. Als ich dann zum ersten Mal hinfuhr, war es ein Schock. Das war 1982. Präsident Sadat war 1981 ermordet worden, das Land befand sich im Zerfall. Danach reisten wir jedes Jahr nach Ägypten. Ich ging dort auch zur Universität. Ich hatte also eine starke Fantasie über Ägypten. So ging es mir auch als Junge in Schweden. Ich wurde immer gefragt, wo ich herkomme. „Schweden“, antwortete ich. Das wollte aber niemand akzeptieren, und so gab ich auf: „Ich komme aus Ägypten.“ Meine Identität formte sich langsam. Als ich also Ägypten zu meiner Heimat machte und dort lebte, wurde die Liebesgeschichte zu dem Land immer tiefer. Zusammen mit einigen Freunden gründete ich ein Magazin. Das war während der Regierung von Mubarak, der das Land langsam nach außen geöffnet hatte.
Wie ging es dann weiter?
Saleh: 2010, ein Jahr vor der Revolution, schrieb ich das Skript
zu „Die Nile Hilton Affäre“.
Ich nahm im Drehbuch sogar Bezug auf die Revolution, doch es war so schlecht
geschrieben, dass ich es mir als Film nicht vorstellen konnte. Für viele Ägypter
war die Idee einer Revolution absurd. Sie sollte nie passieren. Wir machten
sogar Witze darüber: „Lass uns morgen treffen und eine Revolution beginnen.“
Dann, im Januar 2011, geschah eine Revolution. Nach einigen Monaten kam der
Zyniker in mir hoch, weil die alten Machtstrukturen wieder hervortraten. Da
verstand ich, dass ich das Ende des Drehbuchs umschreiben musste, weil ich
jetzt wusste, wie die Revolution aussah. Das Problem war, dass die Hauptfigur,
ein Polizeibeamter, auf der falschen Seite der Revolution stand. Und doch ist
das faszinierend. Dann bereiteten wir zwei Monate lang in Kairo die
Dreharbeiten vor. Drei Tage vor Drehbeginn trafen wir in der schwedischen
Botschaft einige schwedische Journalisten. Plötzlich sagte mein Produzent:
„Tarik, wir müssen das Land verlassen!“
Sie mussten wirklich flüchten?
Saleh: Die Sicherheitsbeamten im Hotel machten uns unmissverständlich deutlich, dass sie meine Sicherheit nicht garantieren könnten, wenn ich nicht sofort das Land verließe. Darum haben wir den Dreh abgebrochen und nach Casablanca verlegt. Alle Beteiligten waren bereit, auf Weihnachten zu verzichten, um diesen Film zu machen. Ich hatte sie also auf meiner Seite, ich konnte den Film doch noch machen. Dann saß ich morgens im Taxi zum Flughafen und war sehr traurig. Dies war das letzte Mal, dass ich in Ägypten war. Das war sehr emotional. Als ich das Filmfestival von Sundance mit „Die Nile Hilton Affäre“ gewann, war man in Ägypten sehr stolz. „Ein Ägypter gewinnt!“, stand in den nationalen Tageszeitungen zu lesen. Doch als der Film in Frankreich in die Kinos kam, begann man mich zu attackieren. Wenn ich nach Ägypten zurückkehren würde, würde man mich verhaften. Ich wurde gefragt, ob es das wert gewesen sei, und ich sage nein. Es ist es nicht wert gewesen. Aber ich musste den Film machen. Costa-Gavras soll mal gesagt haben: „Ich mache keine politischen Filme, aber jeder Film ist politisch.“ Ich will niemand provozieren. Ich erlaube nur keine Zensur an der Geschichte. Was würde ein japanischer, ein koreanischer, ein mexikanischer Regisseur tun? Und warum kann ich das nicht tun? In Ägypten kann man noch nicht einmal sagen, dass eine Straße nicht befahrbar ist. Dann wäre man bereits unpatriotisch. Dabei bin ich gar nicht so mutig. Ich habe das Privileg eines schwedischen Passes. Doch das ist nichts, worauf man stolz sein sollte.
Wie schwierig war es, Ihren neuen Film auf die Beine zu stellen, also das Drehbuch zu schreiben und das Geld zu bekommen?
Saleh: „Die Nile Hilton Affäre“ war bereits mein dritter Film, das macht die Dinge einfacher. Ich wurde überhäuft mit Drehbüchern und Anfragen. Ich musste also oft nein sagen. Das Drehbuch zu „Die Kairo Verschwörung“ war ein Spiel. Eigentlich wollte ich einen Roman schreiben. Mein Lieblingsbuch ist Umberto Ecos „Der Name der Rose“. Als Sohn eines muslimischen Vaters und einer christlichen Mutter kennen ich beide Religionen, ich war in Kirchen und Moscheen. Meine Erfahrung zeigt, dass die meisten Menschen nicht Bescheid wissen. Das meiste, was über Muslime gesagt wird, stimmt nicht. Bei Umberto Eco geht es um das Verhältnis zwischen Kunst und Religion. Das ist eine komplizierte Beziehung. Ich fragte mich, ob ich eine ähnliche Geschichte innerhalb des Islams erzählen könnte. Und dachte über die al-Azhar-Universität in Kairo nach, die schon mein Großvater besucht hatte. Ich kenne die Institution also sehr gut.
Könnten Sie sie ein wenig näher beschreiben? Sie scheint riesig zu sein und auch sehr alt. Ich hatte den Eindruck eines großen Durcheinanders.
Saleh: Es ist möglicherweise die größte Universität der Welt: 200.000 Studenten, 3000 Professoren. Es ist die drittälteste Universität der Welt, sie ist älter als die Sorbonne. Sie wurde 972 von den sunnitischen Fatimiden gegründet. Bei den Sunniten gibt es niemanden, der heilig ist. Das bedeutet: Es gibt keine wirkliche Autorität. Bei den Schiiten gibt es einen Ayatollah. Es gibt dort eine sehr klare Struktur. Im sunnitischen Islam geht es um Wissen: Wer ist am weisesten? Man kann in Hamburg in einem Keller ein Imam sein, der 13 Millionen Follower auf Youtube hat. Man kann eine Fatwa ausrufen, was natürlich problematisch ist, weil es keine übergeordnete Autorität gibt. Al-Azhar ist eine informelle Autorität, weil die Universität so viel Wissen an einem Platz versammelt. Sie wurde durch die Jahrhunderte immer auch herausgefordert, besonders von Saudi-Arabien, das die Medina-Universität eröffnete. Doch die konnte al-Azhar nie überholen. In Ägypten werden natürlich auch Gesetze erlassen. Doch damit die Gesetze wirken können, brauchen sie religiöse Empfehlungen. Die Regierenden sind also sehr abhängig von den religiösen Autoritäten. Das ist ein Machtkampf, der schon Jahrhunderte andauert. Es gab früher schon den Pharao und den Priester. Der Pharao ist Gott auf Erden, doch es ist der Priester, der das sagt. Wenn beide im Konflikt miteinander sind, endet der Pharao mit einem Messer im Rücken. So war es immer. Mein Film ist natürlich eine Fiktion. Doch die Wahrheit ist innerhalb dieser Fiktion sehr präsent.
Die Hauptfigur Adam ist in den ersten Szenen sehr schüchtern und introvertiert. Doch im Laufe des Films macht er eine Entwicklung durch. Wie würden Sie ihn beschreiben?
Saleh: Als Sohn eines Immigranten trägt man die Geschichte seiner Vorfahren in sich. Meine Großeltern waren in ihrem Dorf die ersten, die eine Ausbildung bekamen. So konnten sie in den 1930er-Jahren ihr Dorf verlassen und zur Schule gehen. Besonders meine Großmutter musste viele Herausforderungen meistern – als Frau in den 1930er-Jahren in Ägypten. Wie viel Widerstand sie wohl überwinden musste? Meine Großmutter brauchte sogar vom König eine Erlaubnis, um als verheiratete Frau arbeiten zu dürfen. Meine Großeltern wurden dann nach Mansala gesandt, das Dorf aus dem Film. Sie lehrten die Kinder der Fischer lesen und schreiben. Natürlich ist Bildung wichtig. Aber niemand spricht über die Opfer, die man dafür bringen muss. Man bezahlt mit seiner Unschuld. Wenn wir wissen, dass sich beispielsweise das Klima ändert, wir aber nichts dagegen tun, machen wir uns schuldig. Wenn wir es nicht wüssten, wären wir auch nicht schuldig. Aber wir wissen es. Und trotzdem handeln wir nicht. Diese Metapher hat mich immer persönlich interessiert, wegen meines eigenen Wissens. Man spricht viel über den Islam, obwohl man vieles nicht weiß, etwa die Bedeutung von al-Azhar. Adam ist unschuldig. Er möchte studieren, er bekommt seine Ausbildung, aber nicht die, die er sich gewünscht hat. Sein Lehrer ist ein Offizier der Staatssicherheit! Darum hat der Film ein bitteres Ende: Adam macht seinen Abschluss im Gefängnis der Staatsicherheit – mit dem Professor, bei dem er studieren wollte. Das ist das Hauptthema des Films: Autorität und Bildung.
Dieser Offizier namens Ibrahim ist auch sehr interessant: ein knallharter Profi, der aber keine Karriere gemacht hat und wie ein Obdachloser aussieht.
Saleh: Ich identifiziere mich sehr mit ihm. Ibrahim hat für sich das Gefühl, dass dies sein letzter Tango sein könnte. Er ist ein altmodischer Mann, der mit vielen modernen Dingen nicht einverstanden ist. Er ist auch nicht willens, Karriere zu machen. Er ist nicht bereit, Dinge auf sich zu nehmen, um innerhalb des Systems aufzusteigen. Sein älterer Boss ist wahrscheinlich noch von der rumänischen Securitate ausgebildet. Ein Kalter Krieger der alten Schule, der genau gelernt hat, wie man Befragungen durchführt, Beziehungen aufbaut – all das. Er betreibt das wie ein Schachspieler. Sein jüngerer Boss ist von den US-Amerikanern ausgebildet, von der CIA. Darum läuft bei ihm alles sehr viel geschäftsmäßiger und effektiver ab: Wenn jemand einem nicht nutzt, wird er einfach getötet. Dies ist ein Schachspiel zwischen Alt und Jung. Auf einem mehr philosophischen Level bin ich überzeugt, dass Ibrahim nach etwas sucht, an das er glauben kann. Vielleicht gibt ihm der Junge diesen Glauben. Aber der Preis ist, dass der Jungen seinen Glauben verliert.
Mir gefiel die Figur des blinden Scheichs, der als Einziger – trotz seiner Blindheit – die Zusammenhänge zu verstehen scheint.
Saleh: Er ist auch mein Lieblingscharakter. Das Einzige, was er nicht sieht, ist, dass er selbst sehr wütend ist. Das ist, was Adam ihm zeigt. „Du sagst, dass man sich als Gläubiger auf Gott verlassen soll. Doch du verlässt dich nicht auf Gott. Du versuchst die Dinge zu verändern.“ Am Ende sagt der blinde Scheich zu Adam: „Es gibt Hoffnung.“ Für mich ist dieser Satz sehr wichtig. Ich habe Kinder. Wenn ich Zynismus spüre, habe ich stets das Gefühl, das wir gar nicht zynisch sein dürfen. Zum Wohl unserer Kinder müssen wir optimistisch sein. Wir müssen das Licht in die Welt bringen. Als Geschichtenerzähler muss man zeigen, dass gewisse Dinge wichtig sind. Aber man darf nicht lügen. Man muss auch sagen, wenn etwas schwierig wird oder hart oder aufopfernd. Wir leben in einer Welt, die von Menschen mit Macht und Geld auseinandergerissen wird. Als Künstler müssen wir auf der Seite des kleinen Mannes stehen. Mich fasziniert dieser Kampf des kleinen Mannes. Es ist ein schöner Kampf. Doch meistens verliert er.
Ich habe den Eindruck, dass Sie sich sehr für Genre interessieren. Welchem Genre würden Sie den Film zuordnen? Ist es ein Thriller, ein Spionagefilm, ein Drama?
Saleh: Ja, ich bin ein stolzer Genre-Regisseur. In Schweden gibt es sehr viele Vorbehalte gegenüber dem Genre. Doch für mich ist das Unsinn. Die Meisterwerke des Kinos sind alle Genrefilme, egal ob man über die Filme Kurosawas spricht oder den US-amerikanischen Film noir. „Die Nile Hilton Affäre“ ist zum Beispiel ein ausgesprochener Film noir, und das ist mein bevorzugtes Genre. So etwas wie ein Diamant des Kinos. Der Spionagefilm ist ein kompliziertes Genre. Ich bin ein großer Fan von John le Carré. Als er starb, habe ich alle seine Bücher noch einmal gelesen. Daraufhin habe ich sogar noch einmal das Skript zu „Die Kairo Verschwörung“ geändert. Mir wurde klar, dass Ibrahim als Offizier dem Jungen viele Dinge nicht erzählen würde. Spionageromane sind schwer zu verfilmen. Ich bin zum Beispiel mit Tomas Alfredson befreundet, der „Dame, König, As, Spion“ gedreht hat; das ist ein sehr komplizierter Film. Dabei ist das Buch gar nicht so kompliziert. Man kann in Büchern Dinge machen, die im Film nicht funktionieren. Man kann als Autor den Leser anlügen. Im Film wäre das zu hart. Ibrahim lügt Adam bezüglich der Mission an, und damit lügt er auch den Zuschauer an. Es gibt aber einen Moment, als Ibrahim mit dem Anwalt spricht und er gefragt wird, was seine Instruktionen seien. Ibrahim will nur wissen, warum der Student Zizo vom Anfang des Films gestorben ist. Er meint das wirklich so. Das ist seine Hauptaufgabe. Darum lügt er letzten Endes doch nicht. Adam muss das aber noch herausfinden. Ich möchte natürlich meinen Vorbildern Tribut zollen. Viele Filmemacher tun das. Für mich sind das le Carré, Dostojewski und Kafka. Autoren, die ganz eigene Welten beschrieben und wundervolle Labyrinthe kreiert haben. Karl Lagerfeld hat mal gesagt: „Ich mache keine Kleidung für dicke Menschen.“ Ich hingegen sage: „Ich mache keine Filme für dumme Menschen.“