© IMAGO / Everett Collection (aus „Jeanne Dielman“)

Kinomuseum-Blog (10): „Sight & Sound“ und der beste Film aller Zeiten

Kinomuseum-Blog (10): Chantal Akermans „Jeanne Dielman“ erobert erstmals die Spitze der „Sight & Sound“-Bestenliste - nicht ohne Widerspruch

Veröffentlicht am
09. Dezember 2022
Diskussion

Chantal Akermans „Jeanne Dielman“ gewinnt die „Sight & Sound“-Kritiker-Umfrage 2022 als „bester Film aller Zeiten“. Doch die verdiente Anerkennung weckt unter Filmemachern auch Kritik.


Zehn Jahre sind – in Film gemessen – eine halbe Ewigkeit. Wer sich professionell mit dem Kino beschäftigt, bringt es in einer Dekade leicht auf 4000 filmische Begegnungen, genug eigentlich, um die Sicht auf diese Kunstform zu erneuern. Entsprechend kurz, sollte man vermuten, müsste das Gedächtnis sein, wenn es in Umfragen um die besten Filme geht, doch das Gegenteil scheint der Fall. Prägende Filme behalten über viele Jahre ihren Platz im individuellen Kanon, neues dringt nur langsam hinein. Und so scheint es fast, als würden Meisterwerke immer seltener geboren.

In der nur alle zehn Jahre abgehaltenen Umfrage der britischen Filmzeitschrift „Sight & Sound schafften es nur neun Filme aus den letzten zwei Jahrzehnten in die Top 100. Vor zehn Jahren waren es sogar nur zwei. Andererseits: Die klassische Periode der Filmgeschichte vor 1960 verliert im Bewusstsein der Befragten naturgemäß an Bedeutung, doch nicht so schnell, wie man es vielleicht befürchten mag – bedenkt man, wie gründlich alte Filme aus dem Fernsehalltag verschwunden sind.

Das unterscheidet eine solche Experten-Umfrage von den aus Nutzerbewertungen errechneten Ranglisten populärer Websites. Mit mehr als 1600 stimmberechtigten „critics“ – tatsächlich wohl zu einem guten Teil Festivalmacher, Kuratoren, Archivare und Filmwissenschaftler – hat sich die Teilnehmerzahl seit dem letzten Mal fast verdoppelt; damals stimmten nur 846 Menschen ab. Rund 4000 verschiedene Titel, so das Magazin, kamen dabei zusammen.

Nun ist die unter Cinephilen mit Spannung erwartete Liste erschienen – und überraschte auf der Spitzenposition fast jeden: Chantal Akermans wegweisender, aber nie wirklich in den Kanon des populären Autorenfilms vorgerückter Film „Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles“ verdrängte Hitchcocks „Vertigo“ vom Spitzenplatz, gefolgt vom jahrzehntelangen Favoriten, „Citizen Kane“ von Orson Welles.

Landete vor zehn Jahren auf Platz 1, diesmal auf Platz 2: „Vertigo“ (© Universal)
Landete vor zehn Jahren auf Platz 1, diesmal auf Platz 2: „Vertigo“ (© Universal)

Vor zehn Jahren befand sich Akermans 200-minütiges Kammerspiel aus dem Jahr 1975 noch auf Platz 36. Flankiert wird diese Anerkennung einer vom Feminismus beeinflussten Filmkunst in der Top Ten von Claire Denis’ „Beau Travail“, der von Platz 78 auf Rang acht sprang, den sich der Film nun mit David Lynchs „Mulholland Drive“ teilt. Waren dies vor zehn Jahren noch die einzigen weiblichen Filmemacher unter den ersten Hundert, stieg der Anteil der Frauen jetzt auf elf.

Diese drei Titel unter den Top Ten geben bereits einen Eindruck von der Kunst- und Avantgarde-freundlichen Richtung dieses Ergebnisses. Etwas populärer votierten 480 Filmemacherinnen und Filmemacher in einer eigenen Umfrage. Dort rangierten dieselben drei Filme auf den Rängen 4, 14 und 28; gewonnen hat hier Kubricks Weltraumklassiker „2001 – Odyssee im Weltraum“, den etwa Martin Scorsese zu seinem Lieblingsfilm erklärte.

Zum ersten Mal also wird der Film einer Regisseurin als „greatest film of all times“ geführt – und noch dazu ein Werk von solcher Radikalität. Wenn man sagt, große Filmschaffende erfänden in ihrem Werk das Kino neu, ist das meist eine Übertreibung. Und doch erlebt man genau das immer wieder. Kaum jedoch so radikal wie im Werk von Chantal Akerman.

Auch neu in den Top Ten ist Claire Denis' „Beau travail“ (© MFA)
Auch neu in den Top Ten ist Claire Denis' „Beau travail“ (© MFA)

Das Tabu ist ein zentraler Begriff in ihrer Arbeit. „Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles“, den sie mit 25 Jahren schuf – im gleichen Alter wie Orson Welles bei „Citizen Kane“ – brach formal mit den Tabus des Erzählfilms mit seinen langen Einstellungen, die das Publikum dazu zwangen, sich selbst in den Bildern umzusehen, um auch ja kein Detail im Alltag der von Delphine Seyrig gespielten Mutter zu verpassen. Zugleich aber erzählte Akerman von einem lebenserhaltenden Tabu, das es dieser Frau überhaupt erst ermöglicht, Tag für Tag zu funktionieren. Mit Ritualen schützt sie sich vor all dem, was die Verwundungen ihrer Seele aufreißen könnte. Die Inspiration dazu fand Chantal Akerman bei ihrer eigenen Mutter, die das Konzentrationslager Auschwitz und die Todesmärsche überlebte, aber nie über ihre Leiden sprechen konnte.

Man weiß heute einiges über die Übertragung von Traumata an die Folgegeneration, doch lange bevor eine psychologische Beschäftigung mit diesen Spätfolgen des Holocaust die Öffentlichkeit erreichte, hatte Chantal Akerman schon den bleibenden künstlerischen Ausdruck dafür gefunden.


Kritik bereits kurz nach Bekanntwerden

Trotz der unbestreitbaren künstlerischen Radikalität in Form und Inhalt stieß diese „Nummer Eins“ im Internet schon kurz nach Bekanntwerden auf Kritik. Paul Schrader, als Drehbuchautor von „Taxi Driver“ auf Platz 28 (beziehungsweise 12 bei der Filmschaffenden-Abstimmung) vertreten, schrieb auf Twitter:

„Siebzig Jahre war der ‚Sight-and-Sound-Poll‘ ein verlässlicher, wenn auch inkrementeller Maßstab für kritischen Konsens und Prioritäten. Filme stiegen auf, andere ab, aber das brauchte seine Zeit. Das plötzliche Erscheinen von ‚Jeanne Dielman‘ auf der Nummer Eins untergräbt die Glaubwürdigkeit der S&S-Umfrage. Es fühlt sich falsch an, als ob jemand seinen Daumen auf die Skala gelegt hätte. Was ich vermute, dass sie getan haben. Wie Tom Stoppard in ‚Jumpers‘ sagte, in der Demokratie kommt es nicht darauf an, wer die Stimmen bekommt, sondern wer sie auszählt. Indem die Wähler-Gemeinschaft und das Punktsystem dieses Jahr erweitert wurde, reflektiert es nicht mehr ein historisches Kontinuum, sondern eine politisch korrekte Neu-Eichung. Ackermans (sic) Film ist ein Lieblingsfilm von mir, ein großer Film, ein Meilenstein, aber seine unerwartete Nummer-1-Wahl tut ihm keinen Gefallen. Von heute an wird er nicht nur als bedeutender Film in der Kinogeschichte in Erinnerung bleiben, sondern auch als Meilenstein verzerrter, ‚woker‘ Neubewertung.“

Chantal Akerman (© Chantal Akerman)
Chantal Akerman (© Chantal Akerman)

Schrader ist bekannt für kontroverse Äußerungen, aber das Schreckgespenst einer linksintellektuell-bürgerlichen Kulturdiktatur, wie sie sich heute knapp durch das Vierbuchstabenwort „woke“ herbeizitieren lässt, kann ich in dieser Liste nicht entdecken. Einerseits hat sich „Jeanne Dielman“ seinen Klassikerstatus nicht erst gestern erworben und anderseits wimmelt es ja immer noch von schwelgerischen Cinephilen-Lieblingsfilmen ohne intellektuellen Überbau. Wong Kar-wai ist gleich mit zwei seiner melancholischen Liebesfilme vertreten, „In the Mood for Love“ (5) und „Chungking Express“ (88). Und noch immer darf man sich mit Murnaus unübertroffenen Studiokunstwerk „Sunrise“ (11), Langs ideologisch umstrittenem „Metropolis“ (67), Chaplins „City Lights“ (36) und „Modern Times“ (78) oder Keatons „Sherlock Junior“ (54) und „The General“ (95) an der verschwenderischen Pracht des Stummfilmkinos berauschen. Wer wie Schrader Akerman – falsch geschrieben – einerseits zur Regisseurin eines „Lieblingsfilms“ erklärt, „Jeanne Dielman“ aber zugleich dafür bedauert, künftig mit falscher Fürsprache assoziiert zu werden, ist wohl doch ein Chauvinist.

Der New Yorker Autorenfilmer Jon Jost argumentiert gar – in einer privaten Facebook-Antwort –, dass auch Akerman die Kür von „Jeanne Dielman“ – so wie er selbst – wohl für Blödsinn gehalten hätte.


Zu Lebzeiten wenig Ehrungen für das Gesamtwerk

Wer die Filmemacherin kannte, wird das nicht unbedingt bestätigen. Nur ein halbes Jahr vor ihrem Tod reiste sie eigens nach Bielefeld, um eine der wenigen Ehrungen entgegenzunehmen, die sie zu Lebzeiten für ihr Gesamtwerk erhielt. Als Laudator des Murnau-Preises begleitete ich sie im Anschluss noch im Zug nach Köln. Sie filmte fast unentwegt mit ihrem iPhone. In den Pausen setzte sie die Bilder auf ihrem Laptop zusammen, und man staunte, was sie gesehen hatte, das sonst niemand sah. Bereits beim Einsteigen beschwerte sich ein Mann in der ersten Klasse lautstark, der nicht gefilmt werden wollte. Während ich höflich die rechtliche Situation erklärte und versprach, dass keine kenntlichen Porträts je veröffentlicht würden, hatte sie bereits die schwere Bronze-Statuette des Murnau-Preises aus ihrer Tasche geholt. „Diesen Preis habe ich gerade gewonnen. Meine Filme laufen auf den größten Festivals der Welt.“

Bei allem Respekt für diesen Preis, dessen Jury ich selbst angehörte: Wie wenig konnte er in diesem Augenblick belegen, welchen Einfluss diese Filmemacherin tatsächlich in den vergangenen vier Jahrzehnten auf das Kino hatte. Ich hatte kaum damit gerechnet, dass sie überhaupt für die Verleihung nach Ostwestfalen-Lippe käme. Tatsächlich aber waren solche Anerkennungen in ihrer Karriere rar. Künstlerisches Renommée und tatsächliche Würdigung stehen oft im Missverhältnis. Für einzelne Akerman-Filme listet imdb.com ganze elf Auszeichnungen. Der Murnau-Preis war 2015 der einzige Preis, den sie zu Lebzeiten, nur ein halbes Jahr vor ihrem Tod, für ihr Lebenswerk erhielt. Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie an diesem Missverhältnis litt.

„Taxi Driver“-Autor Paul Schrader gehört zu den Kritikern des Umfrageergebnisses (© Warner-Columbia)
„Taxi Driver“-Autor Paul Schrader gehört zu den Kritikern des Umfrageergebnisses (© Warner-Columbia)

Bei aller Distanz zum Aussagewert, den solche Umfragen haben: Muss man nicht anerkennen, dass diese Würdigung von „Jeanne Dielman“, errechnet aus den Stimmen von 1600 Expertinnen und Experten, dazu beitragen kann, einem schmerzlichen Missverhältnis zwischen Bedeutung und Beachtung entgegenzuwirken?

Jon Jost glaubt nicht daran: „Das war schon eine sehr seltsame ‚Wahl‘, um es vorsichtig auszudrücken. Trump hätte seine berechtigte Freude daran. Vielleicht ist es der abgebrühte Realist in mir, vielleicht der Zyniker, aber solche Preise, oder ein Oscar oder Cannes oder was auch immer, bedeuten wirklich nichts, außer an Orten, wo man sie in bare Münze verwandeln kann. Oder was sie ‚bedeuten‘, ist zutiefst unehrlich. Wenn es um ‚Kunst‘ geht und Urteile darüber, sind sie so bedeutungsvoll wie ein Lottogewinn.“


Ein Paradigmenwechsel

Es schmerzt, wann immer bedeutende Künstlerinnen oder Künstler erst posthum Anerkennung finden – während doch ständig irgendwo Filmpreise überreicht werden. Aber vielleicht hat gerade deshalb eine solche Kritiker:innen-Umfrage jenseits aller roter Teppiche eine andere Bedeutung. Was Paul Schrader – und etliche cinephile Kritiker dieser Entscheidung wohl tatsächlich erzürnt, ist ein Paradigmenwechsel. Die Deutungshoheit über Qualität im Film könnte sich von der klassischen Filmkritik in Richtung einer akademisch sozialisierten Kunstöffentlichkeit verlagern. Damit einher geht die Befürchtung einer Abwertung der unterhaltenden Spielarten der Filmkunst – wie ja schon bei Festivals das Genrekino oder leichte Komödien nur selten Preise gewinnen. Rückenwind bekommt diese Sorge von der gegenwärtigen Kinokrise: Wenn kommerzielle Filmtheater schließen, weil ihnen die Zuschauer in Richtung der Streamingdienste abwandern, könnten am Ende nur noch Museumskinos übrigbleiben – die dann den Vorlieben des Kunstbetriebs untergeordnet würden.

Doch diese Schlacht ist noch nicht verloren. Anders als in Stadttheater, Oper oder Kunstmuseum kann im Kino grundsätzlich noch immer alles begegnen – Unterhaltung, Kunst oder beides zusammen – wie gegenwärtig im Publikumserfolg „Triangle of Sadness“. Die Top-100-Liste von Sight & Sound ist der beste Beleg für diese einzigartige Mischung – von der Nummer Eins, „Jeanne Dielman“, bis zur Nummer 95, die sich gleich sechs Filme teilen, jeder auf seine Art ein Gratmesser für das, was Kino kann: „Ein zum Tode Verurteilter ist entflohen“, Robert Bressons metaphysischer Thriller; Sergio Leones denkbar artifizieller Western „Spiel mir das Lied von Tod“; Apichatpong Weerasethakuls rätselhafte Dschungelromanze „Tropical Malady“; Ousmane Sembènes ebenso minimalistische wie zielsichere Abrechnung mit dem postkolonialen Frankreich, „Black Girl“; Buster Keatons artistisch-komödiantisches Wunderwerk „The General“ und schließlich Jordan Peeles Horror-Satire über Fantasien weißer Überlegenheit, „Get Out“. Diese hundert Filme sind wie ein cinephiles Mix-Tape, das zum Nachspielen einlädt. Im Londoner Kino des British Film Institute beginnt man bereits mit der Retrospektive.


Hinweis

Die Beiträge des Kracauer-Blogs „Kinomuseum“ von Daniel Kothenschulte und viele andere Texte, die im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums in früheren Jahren entstanden sind, finden sich hier.

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