© Film Kino Text (aus "Il Buco - Das Höhlengleichnis")

Welthaltig

Überlegungen zu einem tellurischen Kino, in dem der Mensch sich den Fokus mit der Ding-, Tier- und Pflanzenwelt teilt, anlässlich des Kinostarts von Michelangelo Frammartinos „Il Buco – Das Höhlengleichnis“.

Veröffentlicht am
02. Februar 2023
Diskussion

Der Mensch als Maßstab aller Dinge prägt auch die Filmgeschichte. Doch in den letzten Jahren entstehen Werke, die der dominanten Form des anthropozentrischen Kinos etwas entgegensetzen, was keine Hierarchien zwischen den Dingen, den Tieren, den Pflanzen und den Menschen zulässt. In diesem „tellurischen“ Kino treten nicht mehr nur Menschen als Protagonisten auf; statt einer an Bildungsroman oder Heldenreise geschulten erzählerischen Vorwärtsbewegung kreist es zyklisch mit dem Kommen und Gehen all dessen, was wächst, gedeiht und vergeht.


Yet I am the necessary angel of earth,

Since, in my sight, you see the earth again,

(Wallace Stevens: „Angel Surrounded by Paysans“)


Sich verdichtender Nebel verdeckt eine Berglandschaft. Frischer Tau glitzerte eben noch im Gras. Ein Schnitt. Aus den feinen Ritzen eines porösen Asphaltwegs wuchert kraftlos Unkraut. Dann ein Blitz, man erschrickt, Jump-Scare. Die Kamera im Unterholz. Ein krabbelnder Käfer wird zum Protagonisten. Wir folgen ihm durch Humuskrater. Jeder Lichtwechsel ein Spannungsfeld, mit Sonnenaufgang ein Plot-Point. Verdreckte Linsen. Bilder und Töne wühlen in der Erde. Keine Menschenseele weit und breit.

Das Verhältnis zwischen Mensch und Natur hat sich in der breiten Wahrnehmung in den vergangenen Jahren grundlegend verändert. Nicht unproblematische Begriffe wie „Anthropozän“ etablieren sich in massentauglichen Diskursen um Klimaschutz und den Umgang mit den Ressourcen der Erde. Die Welt wird als irreversibel von uns Menschen beeinträchtigt verstanden. Von der Literatur bis zu Videospielen haben verschiedenste Medien diese veränderte Wahrnehmung der sogenannten Umwelt aufgegriffen. Man hat erkannt, dass sich an ihr zumindest als „neu“ vermarktbare Narrative entzünden.


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All dem näherkommen, was wächst, gedeiht und vergeht

Still und heimlich hat sich auch im Kino eine Form etabliert, die sich dieser veränderten Wahrnehmung verschreibt. Ihre stärksten Vertreter räumen jedoch ganz auf mit auf Menschen gerichteten Betrachtungen, wie sie der Begriff „Anthropozän“ nahelegt. Stattdessen setzen sie der über Jahrzehnte dominanten Form des anthropozentrischen Kinos etwas entgegen, was keine Hierarchien zwischen den Dingen, den Tieren, den Pflanzen und den Menschen zulässt. Die Rede ist von einem Kino, dass frei nach Donna Haraway dem Denken über die menschliche Überlegenheit, dem felsenfest in der westlichen Philosophie verwurzelten Glauben an Individualismus widerspricht. Nennen wir es ein tellurisches Kino (nach lat. „tellus“, die Erde, die Erdoberfläche).

In diesem Kino treten nicht mehr einzig die Menschen als Protagonisten auf. Die Aufmerksamkeit der Filmemacher verschiebt sich. Schmelzender Schnee oder raschelndes Laub werden mindestens genauso wichtig wie ein Lächeln oder ein letzter Seufzer. Statt einer an Bildungsroman oder Heldenreise geschulten narrativen Vorwärtsbewegung, drehen sich die Filme zyklisch mit dem ständigen Kommen und Gehen, das all dem, was wächst, gedeiht und vergeht, näherkommt. Auf der Tonspur hört man oft gar keine Dialoge mehr. Stattdessen nimmt man die kleinsten Regungen der Natur wahr. Tiere bevölkern diese Filme. Es geht jedoch nicht nur um inhaltliche Verschiebungen. Die Form passt sich an, sucht nach neuen Wegen, das zu zeigen, was uns umgibt. Es handelt sich hier keineswegs um Naturdokumentationen, wie man sie aus dem Fernsehen kennt. Es geht um die Erfahrung von Zeit und Raum, wie sie nur das Kino vermitteln kann. Verlässt man selbiges, kann man bestenfalls mit anderem Blick auf das blicken, was man sonst womöglich übersieht.

Verständnis für räumliche Zusammenhänge

Michelangelo Frammartino, dessen „Il buco - Ein Höhlengleichnis“ dieser Tage in den deutschen Kinos startet, hatte bereits 2010 in seinem „Le quattro volte (Vier Leben)“ ein solches Kino angestrebt. Geht es in seinem jüngsten Film um die historische Erkundung des Abisso del Bifurto, einer 683 Meter tiefen Höhle im kalabrischen Karst, beobachtete er seinerzeit das Leben in der entlegenen kalabrischen Bergstadt Caulonia. Sind solche Ortsangaben bei anderen Filmen bestenfalls schmückendes Beiwerk, das zu mancher Förderung durch touristische Organisationen führen mag, schreiben sich die Landschaften bei Frammartino und im tellurischen Kino generell in jede Sekunde der Filme ein, die Filme bestehen aus Landschaften.

"Il buco - Das Höhlengleichnis" (© Film Kino Text)
"Il buco - Das Höhlengleichnis" (© Film Kino Text)

Das Verständnis für räumliche Zusammenhänge ist zentral für die Mise-en-scène der Filmemacher. In „Il buco etwa taucht ein Leuchtturm auf, der die Nähe der Berglandschaft zum Mittelmeer signalisiert. In einer darauffolgenden Totalen sieht man ihn plötzlich in weiter Ferne leuchten. Der sich einstellende Effekt beim Sehen ist durchaus vergleichbar mit jenem, der sich durch dramaturgische Offenbarungen einstellt, zum Beispiel wenn man als Zuschauer etwas vor dem Protagonisten erkennt.

Man muss verstehen, leben, erfahren, bevor ein Bild Sinn ergibt

Selbstredend sind die Bilder menschengemacht. Hier wird keine dieser fragwürdigen Ideen umgesetzt, bei denen Hunden eine Kamera umgeschnallt wird oder ähnliches. Das Interesse des Kameraauges aber verschiebt sich. Raul Domingues, Regisseur des außerordentlich gelungenen „Terra que marca“, der dieses Jahr im Forum der Berlinale Premiere feierte, formulierte es so: „Es geht mir darum, dass mein Fußabdruck als Filmemacher so gering wie möglich ist.“ Man kennt diese Sätze, wenn es um die anvisierte Neutralität der Blickenden geht, aber die Formulierung lässt aufhorchen. Der Fußabdruck wird ja meist verwendet, wenn es um jenen der Menschen auf der Erde geht. In „Terra que marca“ filmt Domingues die traditionelle landwirtschaftliche Arbeit seiner Großeltern. Dabei gilt sein Blick mehr dem Boden, dem Zupfen, Rupfen, Rechen und dem durch die Luft wirbelnden Dung als den Menschen. Es entsteht eine betörende Choreografie landwirtschaftlicher Arbeit, die den Fokus auf das Verhältnis Mensch und Erde legt, und zwar ganz wörtlich. Die traditionelle Arbeit mit der Erde verschränkt sich mit der filmischen Praxis. Die Kamera als Werkzeug, das nicht einfach alles aus der Natur nehmen kann. Man muss verstehen, leben, erfahren, bevor ein Bild Sinn ergibt.

Frammartino ist weniger radikal in seiner Bildsprache, er vermeidet auch nicht die digitale Glätte in seinen umwerfenden Totalen. In seiner Arbeit drücken sich philosophische Konnotationen deutlicher durch die Beobachtungen aus; man kann seine Filme auch nicht als Dokumentationen bezeichnen, auch wenn sie dokumentieren. Aber jedes seiner Bilder denkt so deutlich nach, dass man eher von Meditationen sprechen muss.

Michelangelo Frammartinos "Vier Leben" (© NFP)
Michelangelo Frammartinos "Vier Leben" (© NFP)

Trotzdem ist Frammartino genau wie Domingues oder C.W. Winter und Anders Edström mit ihrem „The Works and Days (of Tayoko Shiojiri in the ShiotaniBasin)“, „The HouseIs Yet To Be Built von Sílvia das Fadas, „Drift oder „Human Flowers of Flesh“ von Helena Wittmann, „Terra von Hiroatsu Suzuki und Rossana Torres oder auch Nikolaus Geyrhalter mit seinem „Erde an einer filmischen Korrektur der Wahrnehmung der Erde oder Natur interessiert.

Die Erde reagiert langsam, aber unaufhaltsam

Formal fällt das in vielerlei Hinsicht auf, beispielsweise bezüglich des Schnitts. Statt eines handlungsorientierten Systems aus Schuss-Gegenschuss, Point-of-View-Einstellungen und dem, was Jacques Rancière einmal als ein relatives Verhältnis zwischen zwei Bildern bezeichnete (das eine geht aus dem anderen hervor; jemand schaut verliebt, jemand anders schaut weg und dergleichen) folgen die Filme oftmals eher assoziativen oder gegensätzlichen Bewegungen, um von einem Bild zum nächsten zu kommen. In „Il buco wird derart eine Metaphorik eröffnet zwischen einem sterbenden Menschen und der (sterbenden) Welt. Der wie eine Narbe auf dem Hochfeld erscheinende Narbenmund gleicht dem Eingang in den Hörgang des Menschen.

"Il buco" (© Film Kino Text)
"Il buco" (© Film Kino Text)

In „Terra que marca folgt auf das Bild einer belebten Straße eines der von ihr hinterlassenen Versiegelung. Anderswo wird so von Wachstum und den Zusammenhängen der Dinge erzählt. Die relative Montage ist manchmal keine Frage von Sekunden im Sinne einer Aktion und Reaktion mehr, sondern von Jahrhunderten. Die Erde reagiert langsamer, aber unaufhaltsamer. Ein Kreislauf entsteht, der die Orte, die gefilmt werden, immerzu als Habitate versteht, in denen jedes Element mit dem anderen zusammenhängt. Diese Habitate weisen formale Analogien mit dem Kino auf. Das Bauen einer Sequenz erinnert an das Pflegen eines Stücks Land und so weiter. Das Color Grading entscheidet, ob das Gras bewässert werden muss oder nicht.

Das Kino lernt eine neue Zeitrechnung

Diese Art, das Verhältnis von Film und Welt filmisch zu denken, kennt viele Vorbilder in der Filmgeschichte. Artavazd Peleschjan hat mit seiner Distanz-Montage und insbesondere mit seinem Film „Die vier Jahreszeiten“ (1975) ein grundlegendes Verständnis für das Prinzip der Wiederholung in den Vorgängen der Natur gelegt. Bereits Jean Epstein filmte den Atlantik in den 1920er- und 1930er-Jahren so, als würde dessen Kraft die Zeit umwandeln können. Das Zeitmedium Film steht im Bann solcher Naturgewalt. In diesem Kino wird die Zeit zu Gezeiten, statt chronologischen Vorgängen folgt man Zyklen. Oftmals fühlt man sich recht klein nach dem Sehen dieser Filme. Man erspürt eine Ohnmacht, die dem wirklichen Zustand der Dinge entspricht.

Kino ist hier weder emanzipatorisch noch beflügelnd, es ist ein Auge im unaufhaltsamen Sturm, ein winziges Getriebe im Rad der Zeit und somit eine Bewusstwerdungsmaschine. Man spürt das, was als „Deep Time“ jenseits menschlicher Vorstellungskraft wirkt. Zwischen zwei Bildern liegen womöglich tausend Jahre. Man muss es wiederholen. Das Kino als Zeitmedium lernt derart eine neue Zeitrechnung. In Helena Wittmanns Filmen etwa taucht man im wahrsten Sinne des Wortes ein in Wahrnehmungsstrukturen, die niemand mehr nacherzählen kann. Längst Vergangenes kommt zum Vorschein, Festgeglaubtes verflüssigt sich und man kann nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob heute morgen war oder gestern jetzt.

"Human Flowers of Flesh" (© Fünferfilm/Shellac)
"Human Flowers of Flesh" (© Fünferfilm/Shellac)

Der Mensch im größeren Zusammenhang der Dinge

Wie im Fall von „Il buco werden die Bewegungen einfacher, fast abstrakt. Statt eines Helden, der in soziale Beziehungen tritt und Hindernisse überwinden muss, geht es im tellurischen Kino um Essenzielles. Wachstum, Tod, Fortpflanzung, Aufsteigen, Absinken, Schlafen, Essen, Trinken. Der Mensch wird als Ameise gezeigt. Im Rauch verschwindend wie der Köhler in „Terra“, mit stoischer Gleichmut wie die Großeltern in „Terra que marca“. Diese Figuren bekommen keine psychologischen Motive, sie sind zu nichtig dafür. Sie arbeiten, definieren sich über ihre Bewegungen, Handgriffe. Das bedeutet keineswegs, dass die Filmemacher herabblicken auf diese Menschen. Sie begreifen sie nur im größeren Zusammenhang der Dinge.

Sicherlich lassen sich Parallelen aufzeigen zwischen diesen Filmen und dem seit zwei Jahrzehnten auf internationalen Festivals gefeierten Kino asiatischer Filmschaffender wie Apichatpong Weerasethakul oder Tsai Ming-liang. Ohne deren höchst individuelles Kino über einen Kamm scheren zu wollen, lässt sich eine direkte Verbindung aus ihren offenen Bildern zu jenen von Frammartino, Wittmann oder Winter & Edström ziehen. Das hat weniger mit den etwas uninspiriert als „slow“ bezeichneten Rhythmen der Filme zu tun als mit der Gleichzeitigkeit von Handlung und Naturphänomenen. Das beinahe erdrückende Zirpen von Zikaden, das die Tonspur der Filme beschallt, ist wohl eines der auffälligsten Beispiele für diese Koexistenz. Mit offenen Bildern ist gemeint, dass diese Filmemacher zulassen, dass sich das Flirren der Natur in jeder Szene manifestiert. Nichts wird ausgeklammert, alles darf weiter existieren. Ein Film spielt in einer Welt, nicht aus ihr herausgehoben. Wenn jemand auf einer Parkbank sitzend weint, wirft eine Windböe die letzten Blätter von einem Kastanienbaum.

"Drift" von Helena Wittmann (MUBI)
"Drift" von Helena Wittmann (MUBI)

Etwas hilflos hat man in solchen Fällen oft von Realismus gesprochen. Allerdings lenkt dieses Kino die Aufmerksamkeit auf derartige Phänomene, intensiviert die Erfahrung der Natur, die Gleichzeitigkeit verschiedener Geschehnisse. Wenn die Höhlenforscher bei Frammartino in die Dunkelheit der Höhle steigen, hüllt sich der Kinosaal in ein überwältigendes Schwarz, die Erfahrung des Unbekannten, das Tasten, Horchen, die Enge, all das weiß „Il buco“ mit einer geradezu hypersensitiven Wahrnehmung aufzuschnappen. Die Aufmerksamkeit wird gelenkt, damit sie das wahrnimmt, was sie sonst übersieht.

Was eine Kuh Kuh sein lässt

Das, was Gilles Deleuze einmal als Zeitbild beschrieb, wird in diesem Kino vertieft. Es überrascht nicht, dass der als Vater des für Deleuze so wichtigen Neorealismus titulierte Roberto Rossellini zunächst Fische in einem Aquarium filmte, bevor er sich erst faschistischen und dann berühmteren anti-faschistischen Arbeiten widmete. Denn auch formal anspruchsvolle Filme über das Leben von Tieren wie „Cow“ von Andrea Arnold oder „Gunda“ von Victor Kossakovsky kann man zum tellurischen Kino zählen. In „Il quattro volte“ sind es Ziegen, die mit einem Mal die Handlung übernehmen. Die Filmgeschichte kennt zur Genüge jene Arbeiten, in denen Tiere als Platzhalter für Menschen dienen, man denke nur an Disney. Über das Leben der Tiere wird vom Menschen erzählt. Hier geht es aber um etwas anders. Wenn die Mutterkuh in „Cow“ mit Menschen vergleichbare Züge aufweist, dann nicht, um den Zuschauern etwas über die Menschen zu erzählen, sondern ganz im Gegenteil, um klarzumachen, was eine Kuh Kuh sein lässt.

"Cow" (© MUBI/BBC)
"Cow" (© MUBI/BBC)

In den genannten Filmen gibt es wiederholt Bilder, in denen Tiere vor der Kamera stehen und in diese zurückstarren. Es ist genau diese Umkehr des Blickes, wenn mit einem Mal die Erde auf uns Menschen blickt, die dieses Kino auszeichnet. Gleich zu Beginn von „Il buco“ starren Kühe in den Höhlenabgrund, aus dem die Kamera nach oben späht. Es ist ein Sinnbild und unmögliches Begehren der Filmemacher, einmal wirklich anders zu sehen. In ihren Bildern immerhin lässt sich eine Welt erkennen, in der die Menschen nie fern sind, womöglich gar entscheidend oder parasitär wirken, aber eine Welt auch, in der kein Mensch regiert. Ist das die letzte Utopie des Kinos?

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