Von wegen niedlich und kulleräugig! Puppen haben sich in der Kinogeschichte nicht zuletzt im Horror-Genre hervorgetan, als Gruselfiguren, die quicklebendig werden und ihren menschlichen Opfern an den Kragen gehen. Am 8.4.2021 erscheint „Dolls“ von Stuart Gordon, ein Klassiker des Puppenhorrors, als Mediabook. Anlass für eine Verbeugung vor Talky Tina, Chucky und Co.
„My name is Talky Tina, and I’m going to kill you!“ Das ist einer dieser Sätze, die dem Zuschauer kalt den Rücken herunterlaufen, zumal er von einer ganz normalen Puppe gesprochen wird. „Normal“, weil sie der Chatty Cathy, einem amerikanischen Sprechpuppenmodell von 1960, nachempfunden ist. Doch Talky Tina kann mehr als nur sprechen, sie lebt. „Living Doll“ („Die Rache der Puppe“ auf deutsch) heißt darum diese Folge der berühmten Serie „Twilight Zone“, in der sich zumeist Unerklärliches, sogar Unglaubliches tut. Telly Savalas, der böse Stiefvater, wird jedenfalls die Episode von 1963 nicht überleben: Die gemeine Talky Tina macht ihm den Garaus, sie ist quasi die Mutter aller gewaltbereiten Film-Puppen. So schlägt „Living Doll“ die Brücke zum modernen Horror, zum berühmten Chucky aus „Die Mörderpuppe“ von 1988.
Doch ein Jahr zuvor entstand
mit „Dolls“ noch gruseligerer Puppenthrill, weil hier die
Spielzeuge in so großer Zahl auftreten – nur gemeinsam sind sie stark! Kultregisseur
Stuart Gordon, unter Horrorfans besonders für seine
vorangegangenen Filme „Re-Animator“ (1984) und „From Beyond“
(1986) bekannt, erzählt die Geschichte einer stürmischen Nacht, eines
abgelegenen Hauses und unheimlicher Dinge, die sich dort zutragen. Zunächst
lernt der Zuschauer die handelnden Personen kennen, vor allem die
selbstsüchtigen, stinkreichen Yuppies David und Rosemary. Im Schlepptau haben
sie die kleine Judy, Davids Tochter aus erster Ehe. Rosemary kann das Mädchen
nicht leiden, es stört ihre Zweisamkeit mit David. So wird sie zur bösen
Stiefmutter par excellence, einem Archetyp, der dem Märchen entnommen ist und
hier auf das Fantastische der Erzählung verweist.
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Eine tödliche Nacht in einem Haus voller Puppen
Als das Trio bei einer
Autofahrt mitten im nächtlichen Gewitter im Schlamm stecken bleibt, findet es
Zuflucht in der alten, verwunschenen Villa der Hartwickes, eines freundlichen
älteren Ehepaares, das sich auf die Fertigung von Puppen spezialisiert hat.
Später stoßen zwei rotzfreche Tramperinnen, die eine schwarz gekleidet mit
Lederjacke und knackiger Satin-Jeans, die andere im bunten Petticoat, und ihr
naiver, pummeliger Chauffeur Ralph zu der Truppe, auch sie herzlich willkommen
geheißen von den Hartwickes.
Mittlerweile hat man das Innere der Villa mit ihren vielen Zimmern besser kennen gelernt. Regalreihen voller Puppen, eine nach der anderen, eine über der anderen – Puppen, wohin man schaut: große und kleine, männliche und weibliche, modisch gekleidet oder im viktorianischen Gewand. Schon allein diese Vielzahl hat etwas Bedrohliches. Dann der erste Horrorschauer: Eine Puppe verfolgt die Gäste aus dem Augenwinkel. Die kleine Judy hat es gesehen. Doch niemand glaubt ihr – zu oft haben sich Judys Geschichten als Tagträume erwiesen. Die Puppen hingegen wetzen ihre Messer und Sägen. Und weil sie so viele sind, gibt es bald die erste Leiche…
Man ahnt es schon: „Die längste Nacht der Welt“, wie es einmal heißt, wird nur überleben, wer im Herzen jung geblieben ist. Und da kommt außer der kleinen Judy nur noch eine Person in Frage.
Wer die Erinnerung an die Kindheit verdrängt hat, den holt sie in grausiger Form ein
Im Kern geht es darum, dass Spielzeuge überaus loyal sind – sie gehören gern ihren Besitzern, sie bedeuten Erinnerung, an die Kindheit vor allem. Doch nur wer diese Erinnerung pflegt, erhält sich ihr Wohlwollen! Stuart Gordon leitet das Grauen mit bekannten Versatzstücken des Horrorfilms ein: Der Regen will gar nicht aufhören, es blitzt und donnert ohne Unterlass; die Villa entspricht perfekt dem „Haunted House“-Image – ein fast gotisch anmutendes Gebäude mit Erkern und Treppen, Kellern und Fluren, Böden und Gängen. Das eigentliche Ereignis aber ist das Heer an Puppen, von den Special-Effects-Leuten und den Kostümdesignern liebevoll hergestellt, gekleidet und mit Stop Motion oder als Marionetten auf Trab gebracht. Wenn sich die „Little People“, wie sie einmal mit Verweis auf ihre Menschlichkeit genannt werden, zuhauf auf ihr erstes Opfer stürzen oder sich in großer Formation einem Flüchtigen entgegenstellen, fühlt man sich zuweilen an Jonathan Swifts „Gullivers Reisen“ erinnert, in dem der Titelheld von unzähligen Liliputanern überwältigt und gefesselt wurde.
Zu den schaurigsten Momenten zählt die Szene, in der sich mehrere Puppen unter der Bettdecke auf Rosemary zu bewegen, oder jene, in denen sie darüber diskutieren, was mit Judy und Ralph passieren soll. Auch die kleinen Zinnsoldaten, die die zweite Tramperin standrechtlich erschießen, sind nicht ohne. Diese Puppen leben! Und sie entscheiden, wer überleben darf…
Im „unheimlichen Tal“ der Menschenähnlichkeit
Puppen sind Abbilder des Menschen: Wir können sie als unseresgleichen ins Herz schließen – wie es Kinder tun, für die Puppen zu geliebten Spielgefährten werden –, oder befremdet sein von diesen Kreaturen, die uns ähneln, aber doch nicht wie wir sind. Gerade die Ähnlichkeit führt zu einem eigentümlichen Paradoxon, das in einem anderen Kontext der japanische Robotiker Masahiro Mori 1970 beschrieb: Er fand heraus, dass wir Roboter umso mehr mögen, je menschlicher sie uns erscheinen – „Allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt: Denn irgendwann sind sie dann so menschenähnlich, aber eben doch nicht wirklich menschlich, dass wir sie plötzlich eher gruselig finden“, schreibt Daniela Mocker in einem wissenschaftlichen Essay. Mori bezeichnet diese Zone emotionaler Verunsicherung angesichts großer Menschenähnlichkeit und doch erkennbarer Nicht-Menschlichkeit als „uncanny valley“, als „unheimliches Tal“.
Das Kino, der einzige Ort, wo die Puppen lebendig werden, wandelt genüsslich in diesem Tal – hier ist dem niedlich-kindlichen Aussehen und den großen Kulleraugen der Puppen nicht zu trauen! Sie wirken zwar menschlich, sie sprechen und bewegen sich, aber irgendetwas fehlt ihnen. Die Seele? Das Herz? Die Vernunft?
Von der Stummfilmzeit bis zu „The Boy“ und „Annabelle“
Kein Wunder also, dass Puppen im Horrorfilm (fast) so alt sind wie das Kino selbst. Bereits 1907 erzählte der Stummfilm „The Doll’s Revenge“ die Geschichte eines Jungen, der die Puppe seiner Schwester kaputt macht. Doch die abgerissenen Einzelteile setzen sich wie von Zauberhand geführt wieder zusammen, die Puppe wird immer größer und tut sich mit einer anderen zusammen, dann geht es dem Jungen an den Kragen. 1975 bekam es Karen Black in der spannendsten Episode des Fernseh-Kompilationsfilms „Trilogy of Terror“ mit einer ziemlich lebendigen und unfreundlichen Puppe zu tun. Der bereits erwähnte Chucky mordete sich zwischen 1990 und 2017 durch sechs überflüssige Fortsetzungen, 2019 gab es sogar ein Reboot. Mit „Annabelle“, die sich auf das „Conjuring“-Universum bezieht und es bisher auf zwei Fortsetzungen brachte, sorgte 2014 das weibliche Pendant für Ärger. Einer der beklemmendsten Puppenhorrorfilme aus der jüngeren Vergangenheit ist „The Boy“ von 2016. Eine junge Frau verdingt sich als Kindermädchen für einen achtjährigen Jungen. Und muss feststellen, dass es sich dabei um eine lebensgroße Porzellanfigur handelt.
Richtig furchterregend sind nicht
zuletzt jene Puppen, denen Bauchredner ihre Stimme leihen und die damit eine
symbiotische Beziehung zum Menschen haben, die sich gut ins Schauerliche kippen
lässt. In „The Great Gabbo“, 1929 von James Cruze inszeniert,
gewinnt die Puppe die Oberhand über die Persönlichkeit von Erich von Stroheim, in der letzten, von Albert Cavalcanti gedrehten Episode des
britischen Gruselklassikers „Traum ohne Ende“ (1945) über die
Persönlichkeit von Michael Redgrave – mit einem wahrlich sinistren
Ende. Zwei Filme, die beweisen: vor Puppen muss man sich in Acht nehmen – getreu
dem Motto: „My name is Talky Tina, and you better be nice to me.“
Hinweis:
„Dolls“ ist im April 2021 als Mediabook mit DVD und BD erschienen. Zu den Extras zählt ein 38-minütiges, sehr aufschlussreiches Featurette namens „Toys of Terror“ (2014), in dem Stuart Gordon und andere Beteiligte am Film kenntnisreich Auskunft über die Dreharbeiten und die lange Postproduktion geben, ein Storyboard-/Film-Vergleich von drei Szenen, der englische Trailer und eine Bildergalerie.