In der Diskussion um die Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) meldet sich der Filmemacher Gerd Conradt zu Wort. Er gehörte einst zu den 18 Studenten des ersten dffb-Jahrgangs und sucht nun mit Blick in die Geschichte der Ausbildungsstätte nach Impulsen für deren Entwicklung und Veränderung. Sein Vorschlag: ein neuer Studiengang.
Die erste nach dem Zweiten Weltkrieg im geteilten Deutschland auf der „Westseite“ gegründete Filmausbildungsstätte, die 1966 eröffnete Deutsche Film- und Fernsehakademie (dffb) steht wieder vor einer Häutung. Meine These: So wie bisher kann es nicht weitergehen.
Die dffb sollte ein Bauhaus des Films werden, und doch stand bei der Eröffnung nicht einmal der Rohbau. An den ersten Jahrgang wurde der Anspruch gestellt, nicht Retter, sondern Erwecker der Kinokunst zu werden, nachdem „Papas Kino“ für tot erklärt worden war. Wir glaubten jedoch, nur in einer revolutionierten Gesellschaft könne der „neue Film“ entstehen, und stellten uns mit unserem noch spärlichen Können, jedoch mit großem Elan auf die Seite der „außerparlamentarischen“ Opposition. Schnell kam es zu Barrikadenkämpfen. Wir probten den Aufstand, wollten die Macht, die Kontrolle über Lehre und Produktionsmittel vergesellschaften. Wir verloren, wurden relegiert, vor die Tore des Rohbaus getrieben - und zogen doch als Sieger von dannen. Zurück blieben Wunden auf beiden Seiten, die fortan wie Blessuren studentischer Säbelfechter stolz in der Kinowelt vorgezeigt wurden.
Die nicht als Universität, sondern als GmbH gegründete Akademie war und ist eine wirtschaftlich orientierte Fachschule mit dem Ziel, Personal für die Filmwirtschaft auszubilden.
Nach über fünfzig Jahren soll nun alles wieder neu werden: neue Direktion, neue Verwaltung, neue Technik, neuer Standort. Doch es sieht so aus, als ob diejenigen, die den Rohbau begonnen haben, noch immer an der Fertigstellung des Hauses arbeiten. Und das könnte, um mit den Worten des ehemaligen Bürgermeisters Klaus Wowereit zu sprechen, „auch gut sein“.
Ein flammender Appell
Mit einem flammenden Appell hat sich jetzt eine Absolventin der dffb zu Wort gemeldet – als Brandstifterin und Feuerwehrfrau in einer Person. Sie zündelt und löscht, kritisiert und beschwichtigt. Schwingt sich zu grundsätzlicher Kritik auf, stößt in die altbekannten Hörner, zitiert Georg Seeßlen, der den mit viel Geld geförderten deutschen „Gremienfilm“ mit „Magerquark“ vergleicht.
Ich, der liebevolle Beobachter der dffb-Geschichte, der gerne erinnert, auch hier und da seine Stimme erhebt, eingreift, vorschlägt, bin letztlich sprachlos, wenn es um die Definition von Start und Ziel, also den Weg geht, der mit dem Beruf der Filmemacherin oder des Filmemachers begangen wird.
Wenn es um Worte geht, dann doch um solche, die um das Bild kreisen. Wenn ich an die dffb denke, dann versuche ich mir ein Bild vorzustellen, ein Bild zu entwerfen. Ist es das einer Schlange, die sich häutet?
Als die dffb eröffnet wurde, etablierte sich zur gleichen Zeit das Fernsehen als neue Verteil-Industrie für das Bewegtbild. Wie die Waschmaschine oder der VW gehörte ein Fernsehgerät bald zur Grundausstattung der vom Wirtschaftswunder verwöhnten Menschen in der neuen Bundesrepublik.
Während sich der deutsche Kinofilm neu erfand, begannen die Kinos zu sterben, anfangs langsam, dann schneller, während die Gruppe der begeisterten Fernsehzuschauer wuchs und wuchs, so wie der VW lief und lief.
Nach den Erfolgen des Neuen deutschen Kinos kamen dessen Väter, die „Papas Kino“ laut für tot erklärt hatten, ebenfalls in die Jahre. Mit guten Filmen hatten sie erreicht, dass das Kulturgut Film an Ansehen beträchtlich zulegte. In der Folge wurden mehr Filmausbildungsstätten gegründet, größer und finanziell besser ausgestattet als die dffb; es wurden Fördergelder bewilligt und die bereits sterbende Kinokultur des jungen deutschen Films aufwändig subventioniert.
Filmförderung ist anerkannte Kulturförderung, sie wird jedoch immer auch als Wirtschaftsförderung verteidigt; das Medienboard Berlin-Brandenburg ist stolz darauf, aus einem Euro drei zu machen.
Das Wort „Film“ wurde immer groß geschrieben
An der dffb wurde das Wort „Film“ immer groß und das Wort Fernsehen klein geschrieben. Fernsehen war als Co-Produzent für Kino- oder Dokumentarfilme willkommen, eigene Experimente zum Medium Fernsehen aber kaum. Dieses Desinteresse beruhte auf Gegenseitigkeit. Rühmliche Ausnahme waren die vielen „kleinen Fernsehspiele“ im ZDF, die dffb-Absolventen und -Absolventinnen den Schritt in die Medienöffentlichkeit ermöglichten.
Die Gegenwart bietet ganz neue Verteilstrukturen - in Konkurrenz zum Kino wie zum Fernsehen. Millionen Menschen machen heute ihre eigenen Programme, erzählen ihre eigenen Geschichten, senden diese rund um den Globus und verdienen damit Geld. Die neuen digitalen Konzerne wie Google, Facebook, Youtube oder Amazon beherrschen das Mediengeschäft längst im Weltmaßstab.
Die Lokalmatadoren wie Fernsehen und Kino mit den öffentlich geförderten Filmen sowie deren staatlichen Verwaltern und Beschützern sind längst weit abgeschlagen im Feld der Marathonläufer um die Herrschaft über den weltweiten Medienmarkt.
Kunst? Filmkunst? Alle zu Künstlern ausgebildete Menschen leben riskant, ihr Leben ist ein Drahtseilakt. Die Frage sei erlaubt, ob das Filmemachen, wie es an Film-Kunst-Hochschulen gelehrt wird, nicht auch Handwerk ist, dessen Kenntnis zur Sicherung des Lebens dient?
Mit dem Schlachtruf „So viel Freiheit wie möglich“ zogen die Studierenden in den neugegründeten Akademischen Rat der dffb ein, in dem sie – nach der Revolution – drittelparitätisch an der Gestaltung der Zukunft beteiligt werden sollten. Ein solches Gremium macht nur Sinn, wenn es Menschen gibt, die sich tatsächlich immer wieder der mühsamen Aufgabe unterziehen, gemeinsam zu planen, sich zu verständigen und Entscheidungen zu treffen. Die nach Filmruhm strebenden jungen Talente sind dafür oft nicht die geeigneten Personen.
Als im Jahr 2016 das Jubiläum „50 Jahre dffb“ anstand, kam ich zu der Überzeugung, dass der Ausbildungsbetrieb nicht wie bisher fortgesetzt werden sollte. Es wäre an der Zeit für ein Innehalten, um Platz für ein Nachdenken, ein Nach-Sichten zu schaffen, also Zeit und Möglichkeiten einzuräumen, um sich über das, was sich in den 50 Jahren der dffb ereignet hat, einen Überblick zu verschaffen.
In dieser Zeit sind von den etwa 1000 Studierenden an der dffb etwa 5000 bis 10.000 Filme entstanden. Diese liegen zum großen Teil als unbekannte Schätze im Archiv.
Die eigene Geschichte entdecken
Wer etwas Neues will, sollte seine Geschichte kennen. In der Wahrnehmung der eigenen Geschichte war die dffb nie gut aufgestellt. Andere Filmschulen machen das besser. Noch bis vor nicht allzu langer Zeit waren die meisten der an der dffb entstandenen Filme nicht einmal richtig erfasst. Was ist aus den vielen Absolventinnen und Absolventen geworden? Darüber gibt es keine verlässlichen Informationen. Die dffb schmückt sich gerne mit den aus ihren Reihen hervorgegangenen Stars – und das sind nicht wenige. Spricht das für den Ausbildungsweg der dffb? Oder für die jeweils individuelle Potenz der Filmschaffenden?
So viel Freiheit wie möglich kann eine Grundlage sein. In den allermeisten Fällen aber nur für die Personen, die mit Freiheit umgehen können. Doch der Markt, für den die dffb ausbilden soll, verlangt nach guten Handwerkern, die in der Lage sind, flexibel zu reagieren. Hat die dffb je diese Anforderung erfüllt? Oder hat sie sich nicht aufgrund der Wunden aus ihren Anfängen immer dagegen gewehrt? Sich aus Erfahrung – die Entstehung von Filmkunst braucht Freiheit – meist auf die Seite der individuell denkenden und handelnden Studierenden gestellt und individuelle Talente gefördert? Susanne Heinrich schreibt: „Mein Film ,Das melancholische Mädchen‘ wäre nie entstanden, wenn jemand ernsthaft zweimal hingeguckt hätte.“ Vermutlich handelten die Verantwortlichen nach dem Motto: Vertrauen ist besser als Kontrolle.
Allerdings hat der Staat als Repräsentant der demokratischen Vertretung des Volkes eine Fürsorgepflicht. Die Filmkultur wird mit viel Geld gefördert und erhalten. Es könnte – und sollte – natürlich immer mehr sein. Denn nach über 50 Jahren dffb geht es nicht nur um das Herausbringen von neuen Kunstwerken, sondern auch um deren Verwaltung, um eine bessere Wahrnehmung und insbesondere auch um eine Sicherung des Erbes. Aber wer will schon Erbe von dem sein, was sich in all diesen Jahren an der dffb ereignet hat?
Filme, die aus Filmen montiert werden
Darum schlage ich vor, dass es an der neu aufgestellten dffb nach dem vom Senat initiierten „Change-Prozess“ einen gut ausgestatteten Studiengang geben sollte, der sich mit der Aufarbeitung der dffb-Geschichte anhand der dort entstandenen Filme befasst. Mit dem Ziel, Neues auf der Grundlage von dem zu schaffen, was es dort schon gegeben hat und als Film noch immer gibt. Filme, die aus Filmen montiert werden.
Jean-Luc Godard sagt in einem Pressegespräch, die „Nouvelle Vague“ sei im Kino, konkret im Kino der Cinémathèque française geboren. Er vergleicht den dunklen Kinosaal mit der Höhle Platons, in der der Mensch aus der „sinnlich wahrnehmbaren Welt der vergänglichen Dinge in die rein geistige Welt des unwandelbaren Seins“ aufsteigt. Das Kino als der Vorhof zum ewigen Leben?
Vorbild für die von mir vorgeschlagene essayistische filmanalytische Arbeit könnte eines der Meisterwerke von Godard sein, der damit das Licht aus der Höhle unter die Menschen gebracht hat, seine „Geschichte(n) des Kinos“, laut „Le Monde diplomatique“ ein „unvergleichliches Meisterwerk“, nach Ansicht der Süddeutsche Zeitung sein „schönstes, persönlichstes, überzeugendstes Werk“.
Der neue Studiengang würde wie ein Labor funktionieren, in dem Formate nicht nur als in Worte gefasste Thesen entwickelt werden, sondern indem Vorschläge für neue audiovisuelle Medien entstehen. Filme werden mit den Mitteln des Films praktisch neu gesehen, aufgearbeitet, vorgestellt – und dem Markt als Produkt zugeführt. Aus alt wird neu. Recycelte Filme.
Als ich in Berlin im Jahr 1973 an einer Universität das neue Medium „Video“ vorstellte, gab ich den Studentinnen und Studenten der Sozialpädagogik, die sich mit dem Thema „familiare Sozialisation“ befassten, die Aufgabe, Filme, in denen Familienleben zu sehen war, neu zu ordnen. Eine Gruppe schnitt aus den Filmen alle Einstellungen zusammen, in denen die Mutter, der Vater, die Kinder vorgestellt wurden, andere die Szenen, in denen Landschaften oder Reisen zu sehen waren. So aufgeschlüsselt wurden die Aussagen der Filme, in meist zehnminütigen Videoclips, sehr deutlich, und die Beteiligten lernten Grundsätzliches über das Medium Film. Mit dem Medium über das Medium arbeiten. Ich setzte mich auch dafür ein, dass das Landesprüfungsamt Diplomarbeiten anerkannte, die als Videofilm vorgelegt worden waren. Das Bild gegen das wissenschaftlich rationale Wort!
In der Diskussion um eine Ausbildung auf dem vom Senat geplanten „Mediencampus“, zu dem künftig wohl auch die dffb gehören soll, muss es um die Bedeutung des Bildes gehen. Im Zeitalter des Digitalismus werden wir uns künftig vor allem mit Zeichen verständigen, und das sollten nicht nur Euro- oder Dollar-Zeichen sein. Emojis sind der Anfang.
Die neue dffb: Ein Schmetterling, ein Affe, eine Banane, ein Apfel, die Sonne, ein roter Mund und - davon habe ich bisher nicht gesprochen - Töne, Musik, Notenschlüssel, Instrumente, Fanfaren und Pauken. So könnte das Kino auch als Kunstform gerettet werden, wie es sich Susanne Heinrich erhofft. Muttis Kino lebt.
Der Autor Gerd Conradt ist Filmemacher und gehörte zu jenen 18 Studenten des ersten dffb-Jahrgangs, die 1968 relegiert wurden.