Die Nachbesetzung des Leitungspostens bei „Vision Kino“ hat sechs Verbände auf den Plan gerufen, die eine grundlegende Revision der Institution fordern und konkrete Änderungen vorschlagen. Manches davon ist gar nicht so neu, andere Ideen vielleicht sogar kontraproduktiv. Ein Zwischenruf aus der Sicht eines Filmpädagogen.
Um die Filmbildung in Deutschland ist es anscheinend schlecht bestellt. Filme werden im Unterricht nur mit Blick auf ihre Inhalte besprochen und kaum im Kino gesichtet, Massenware wird Arthouse vorgezogen, es gibt zu wenig Diversität, und vernetzt ist die Filmbildungsszene auch nicht. Zu diesem Schluss muss man kommen, wenn man die gemeinsame Erklärung „Ein Neustart für ,Vision Kino‘ ist unumgänglich“ liest, die von der AG Kurzfilm, dem Bundesverband Kommunale Filmarbeit, der Initiative „Film macht Schule“, dem Hauptverband Cinephilie, dem Produzentenverband sowie dem Verband der deutschen Filmkritik anlässlich des anstehenden Wechsels in der Geschäftsführung von Vision Kino veröffentlicht wurde.
Nun ist es durchaus legitim, mit einem Leitungswechsel in einer gemeinnützigen Organisation, hinter der unter anderem die FFA als Gesellschafterin steht und deren Schirmherrschaft der Bundespräsident übernommen hat, auch Wünsche zu verbinden und eine Neuausrichtung zu fordern. Nur: Wenn man das mit so viel Verve wie die Unterzeichner des offenen Briefs tut, dann sollte man sich vorher gut beraten lassen, damit die Kritik nicht nach hinten losgeht.
Leider aber ist genau das passiert. Die Verfasser haben es nicht bei einer Institutionen- und Personenkritik belassen, sondern den filmpädagogischen Rundumschlag gewagt. Doch was hier als Neuausrichtung gefordert oder vorgeschlagen wird, ist keineswegs so neu, wie die Unterzeichner sich das vorstellen. Manchmal rennen sie schlicht offene Türen ein. Mit gehörigem Anlauf.
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Es ist die Aufgabe von Vision Kino, zu den Vorwürfen Stellung zu beziehen oder diese, soweit berechtigt, als Chance zu nutzen. Aber man kann die Erklärung auch als Einladung verstehen, eine Debatte über den Stand der Filmbildung zu führen. In dieser Hinsicht gibt es einiges, worüber zu reden wäre. Ein paar Zwischenrufe aus der Sicht eines Filmpädagogen, der sowohl für die Filmbranche als auch für Filmbildungseinrichtungen, auch für Vision Kino, arbeitet.
Filmbildung braucht Arthouse und Mainstream
Nichts gegen den Wunsch, Film als Kulturgut zu bewahren und Diversität anzumahnen. Es ist aber falsch, diese Aufgabe der Filmbildung zu übertragen und in diesem Zuge zu fordern, sie möge sich auf den Arthouse-Film konzentrieren und den Mainstream außer Acht lassen. In der Filmbildung gibt es seit jeher nicht zu viel „Spider-Man“, um bei diesem Beispiel aus der Erklärung zu bleiben, sondern zu wenig. Es ist eine große Chance der Filmbildung, auch über das populäre Kino einen Zugang zu Filmen zu öffnen und Kinder und Jugendliche mit ihren bestehenden Interessen ernst zu nehmen.
Im Verband der Filmkritik gibt es viele Mitglieder, die sich dem subversiven Kino verschrieben haben und es hervorragend verstehen, cineastische Nischen durch ihre Texte zugänglich zu machen. Aber warum sollte man jungen Menschen nicht ihre eigenen Erfahrungen zugestehen und sie selbst herausfinden lassen, was sie an der weiten Welt des Films interessiert? Das heißt ja nicht, dass die Filmbildung sich nur auf das Populäre konzentrieren sollte. Aber sie darf es auch nicht ausblenden!
Die europäischen Nachbarländer, die gerne als Vorbilder in Sachen Filmbildung genannt werden, sind in dieser Hinsicht schon seit Jahrzehnten weiter. Gerade in Großbritannien hat man keine Scheu, auch Superheldenfilme filmbildnerisch ernsthaft zu bearbeiten – ganz im Sinne der Cultural Studies, die den Kulturbegriff viel weiter fassen.
Filmbildung braucht gutes Quellenmaterial
Selbstverständlich macht es wenig Sinn, Filme auf ihre Inhalte zu reduzieren. Leider gibt es im medienpädagogischen Bereich noch immer eine Tendenz, genau dies zu tun. Weil man denkt, dass man nur so die Schulen erreichen kann oder dass im Unterricht nur Themen, aber nicht auch Vermittlungsformen zählen. Allerdings hat sich in den letzten 20 Jahren hier auch einiges verändert. Gute Materialien beziehen sich auf Standfotos aus dem Film (und nicht auf Set-Fotos) oder auf konkrete Filmausschnitte. Insofern ist die Forderung, die Form der Filmwerke nicht unter den Tisch fallen zu lassen, nur zu berechtigt und eine wichtige Erinnerung. Allerdings sind es nicht die Bildungseinrichtungen, die gegen eine Beschäftigung mit der Form sind, sondern die Einschränkungen kommen vielmehr oft von den Filmverleihern, die Materialien aus rechtlichen Bedenken nicht für den Unterricht freigeben. Mit den zur Verfügung stehenden Quellen und Zugriffsrechten steht und fällt aber die Qualität der Filmbildung.
Filmbildung ist nicht nur Kunstvermittlung, sondern auch
Marketing
Auf dem Feld der Filmbildung tummeln sich heute nicht nur medienpädagogische Institutionen, sondern auch Filmverleihe und Presseagenturen. Mit ausschließlich medienpädagogischen Interessen hat die Diskussion um Filmbildung deshalb schon lange nichts mehr zu tun. Auch Vision Kino steht an der Schnittstelle zwischen Filmbranche und Bildungssektor und soll sowohl eine Lanze für die Film- wie die Kinobranche brechen. Das kann problematisch werden, ist aber nicht automatisch verwerflich. Film ist eben, das wissen alle Arthouse-Kinobetreiber, sowohl Kunst als auch Wirtschaftsgut. Kurzum: Große Teile des Sektors Filmbildung stehen irgendwo zwischen Marketing und Bildung. Die Kunst besteht darin, die Interessen beider Bereiche auszutarieren und diese Verknüpfung transparent zu machen.
Der Filmkanon ist tot. Und sollte es auch bleiben.
Nach dem Kongress „Kino macht Schule“ im Jahr 2003, der der Debatte um Filmbildung gehörig Schub verlieh, wurde ein 35 Filme umfassender Filmkanon auf den Weg gebracht. Das war eine Steilvorlage für die Diskussion. Es war ein Versäumnis der Bundeszentrale für politische Bildung, die den Filmkanon herausgab, der Diskussion zwar ein Forum zu geben, dann aber auf die Kritikpunkte, unter denen es sehr gute und konstruktive Beiträge gab, nicht zu reagieren, was die Debatte ins Leere laufen ließ. Der „Kanon“ war, gefestigt durch eine Publikation, damit gesetzt. Bis auf Einzelinitiativen entfaltete er aber keine Wirkung.
Die größte Leistung bestand wohl darin, zu einer Auseinandersetzung einzuladen und die Grundlagen für die Diskussion zu schaffen: An welchen Filmen könnten Lehrer, die kein großes Filmwissen oder bislang auch wenig Filmaffinität besitzen, im Unterricht ansetzen? Das Hauptproblem bestand darin, dass die Kanon-Idee nicht zu den Grundgedanken von Bildungsplänen passte. Diese Debatte mit einem neuen Filmkanon aufzuwärmen, würde bedeuten, die alten Fehler noch einmal zu wiederholen. Als Orientierungshilfe für Lehrer sind andere Formate besser; die Filmtipps von Vision Kino, die sich auf aktuelle Filme beziehen, gehen deutlich mehr in die richtige Richtung.
Pädagogische Altersempfehlungen sind die wichtigste
Kategorie bei der Filmauswahl
Wenn die Unterzeichner der „Erklärung“ am bestehenden „Kanon“ unter anderem bemängeln, dass die ausgewählten Filme nahezu ausschließlich aus Europa und Nordamerika stammen und überdies keine Filme von Regisseurinnen vertreten seien, dann übersehen sie die Bewertungskategorie, die bei der Filmbildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen eigentlich im Vordergrund stehen sollte: die Alterseignung und damit die Frage, ab welchem Alter ein ausgewählter Film wirklich verstanden wird. Unter dieser Rücksicht wird schnell deutlich, dass ein Großteil der „Kanon“-Filme sich an Jugendliche ab 14 Jahren richtet.
Der vom Bundesverband Jugend und Film initiierte Kinderfilmkanon hatte auf diesen konzeptionellen Fehler schnell reagiert und eine eigene Empfehlungsliste vorgestellt. Wer ernsthaft medienpädagogisch arbeitet, für den sollten die pädagogischen Altersempfehlungen der oberste Maßstab sein, weil diese überhaupt erst Zugänge eröffnen oder verschließen. Erst danach kann auf Diversität im weitesten Sinne geachtet werden.
Film ist nicht die wichtigste aller Künste
Viele Filmbildungskongresse haben einen schalen Beigeschmack. Und zwar immer dann, wenn vollmundig gefordert wird, dass Film ein Schulfach werden müsse, dass alle Lehrer in Filmbildung geschult werden sollen und Film ein fester Bestandteil der Lehrerausbildung werden müsse. Das klingt alles sehr schön, wenn man Filme mag, in diesem Bereich arbeitet oder mit Filmen sein Geld verdient. Aber aus medienpädagogischer Sicht kann man durchaus die Frage stellen, was die Kunstform Film denn so besonders macht, dass man sie gegenüber anderen Medienformen bevorzugen soll. Warum müssen immer neue Schulfächer erfunden werden, wo sämtliche Medien doch in zahlreichen Fächern eingesetzt werden können und auch sollen?
Wenn man ein mediendidaktisches Ziel für den Unterricht formulieren möchte, dann wäre das wohl am ehesten Bildkompetenz. Manchmal fehlt es der Filmbildung an einem gesunden Maß der Selbsteinschätzung. Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang einfach auch akzeptieren, dass Netflix für Jugendliche heute in ihrem Alltag viel wichtiger ist als das Programmkino oder die Multiplexe. Das bedeutet ja durchaus nicht, dass diese Jugendlichen für die Filmbildung verloren wären.
Auf den Grundlagen aufbauen
Es stimmt: Was der Filmbildung in Deutschland fehlt, ist frischer Wind und die Nutzung des vorhandenen Potenzials. Im Laufe der letzten 15 Jahre hat sich in Deutschland dennoch eine gute Grundlage für Filmbildung entwickelt, auf der man aufbauen kann. Jetzt wäre es an der Zeit, dieses zu nutzen. Aus großer Macht folgt große Verantwortung, könnte man auch sagen. Wäre Spider-Man Jurist mit fundierten Kenntnissen im Zuwendungs- und Vergaberecht – er hätte sich auf den Leitungsposten von Vision Kino bewerben können.
Foto: Sony, DCM, StudioCanal