In den Filmen der italienischen Regisseurin Alice Rohrwacher begegnen sich höchst produktiv archaische und postmoderne, religiöse und profane Elemente. Aus der Verbindung von dokumentarischer Authentizität und symbolisch-metaphorischen Bezügen erwächst eine zeichenhafte Verrätselung der Welt, die Staunen macht, aber auch den Widerspruch zu den unerfüllten Versprechungen der Moderne offen hält.
In Alice Rohrwachers erstem Spielfilm „Corpo celeste“, der von der Vorbereitung der 13-jährigen Marta auf ihre Firmung im süditalienischen Reggio Calabria erzählt, gibt es ein seltsames Kreuz. Es hängt an der fast kahlen Betonwand des Kirchenraumes, in dem die Feier stattfinden soll; zweifellos hat es die vom Dokumentarfilm herkommende Regisseurin dort vorgefunden. „Seltsam“ ist ein schwaches Wort für den ästhetischen Unfall, der sich mit diesem Kreuz ereignet hat. Auf den schwarzen, sehr breit, fast plump geratenen Kreuzesbalken hängt kein Christus, sondern eine abstrakte Neonskulptur, die an sinnlos miteinander verschraubte Stahlrohre erinnert. Kein Wunder, dass sich die Gemeinde mit dieser visuellen Katastrophe nicht anfreunden kann. Don Mario, der Priester, hat deshalb versprochen, für die bevorstehende Firmungsfeier wieder ein figuratives Kreuz zu besorgen. Er holt es aus der Kirche seines inzwischen menschenleeren Heimatdorfes in den Bergen, in der nur noch sein alter und verbitterter Amtsbruder lebt. Der Raub des Kreuzes bleibt nicht folgenlos. Auf der Rückfahrt über eine kurvenreiche Straße rutscht das Kreuz mit dem leidenden Christus vom Dach seines Autos und stürzt, für ihn unerreichbar, in einen Fluss. In der Kirche in Reggio hat man inzwischen das Neonkreuz bereits abmontiert, es steht, während die Feier bereits ihren Lauf nimmt, ohne Marta, auf die Seite gekippt und deplatziert an der Kirchenwand.
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Der Titel dieses Regiedebüts, „Corpo celeste“, könnte durchaus auf den entschwundenen Christus gemünzt sein. Näherliegend ist der Bezug auf Marta, die sich vom Mädchen zur Frau entwickelt, im Spiegel ihre kleinen Brüste betrachtet und ihre erste Menstruation erlebt, während die Firmung sie zugleich ganz der Kirche einverleiben soll. Von all den Glaubensformeln, die sie dafür auswendig lernt, bleiben ihr ausgerechnet die Worte „Eli, eli, lama sabachthani“ (Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen) im Gedächtnis. Auch weil sie niemand, als verstünden sie sich von selbst, übersetzen will.
Das ländliche Süditalien als produktive Quelle fragwürdiger Gleichzeitigkeit
„Corpo celeste“ ist vor allem ein Pubertätsdrama in einer noch ganz katholischen, aber ihrer selbst keineswegs mehr sicheren Welt. In einem Interview im Bonusmaterial der DVD-Edition des Films erzählt Alice Rohrwacher von ihren Recherchen und der Entdeckung, dass sie in Süditalien nicht etwa die erwartete Rückständigkeit, sondern eine Mischung von „Archaik und Postmoderne“ gefunden habe. Dieses Muster erschließt sowohl das missglückte Neonkreuz wie den Verlust seines bäuerlichen Gegenstücks oder die unverständlich gewordenen Worte einer einst vertrauten Überlieferung. Es ist zugleich die produktive Quelle, aus der die eigenartige Verbindung von dokumentarischen Beobachtungen und Fundstücken einerseits, symbolischen oder metaphorischen Bezügen andererseits entspringt, die Rohrwachers Filme auszeichnet: eine Kombination von neorealistischen und poetischen Elementen, die tief in der italienischen Filmgeschichte verankert ist, man denke nur an Vittorio de Sica oder Luchino Visconti, an Federico Fellini oder Pier Paolo Pasolini. Im Unterschied zu dieser Tradition führen jedoch die „archaischen“ Relikte der Überlieferung und die „postmodernen“ Transformationen des Realen zu einer Verrätselung der Welt, zu einer zunehmend intransparenten Zeichenhaftigkeit.
In „Corpo celeste“ bleibt dieser Prozess in der Schwebe, weil seine Hauptfigur und ihre Erfahrungen sich selbst in einem Stadium des Übergangs befinden. In „Glücklich wie Lazzaro“ haben sich eine festgefügte alte und eine von Willkür bestimmte neue Welt völlig voneinander getrennt: narrativ in die beiden Teile der Erzählung, örtlich in Land und Stadt, zeitlich in eine Vergangenheit ewiger Dauer und eine Gegenwart des permanenten Jetzt. Die eine könnte der anderen als Utopie erscheinen, herrschte nicht in beiden ein soziales Elend von ähnlichem Ausmaß. Verbunden sind sie durch die Titelfigur, den glücklichen Lazzaro, der nur glücklich ist, weil er beide verkennt. Und deshalb zwar in beiden lebt, aber weder zu der einen noch der anderen gehört.
Das Licht des Sommers vs. die Kälte des sozialen Abseits
Inviolata (Unversehrt) heißt das Landgut, in dem der erste Teil spielt, nach einer der Eigenschaften, die Maria, der Mutter Jesu, zugeschrieben werden. Eine bäuerliche Gemeinschaft arbeitet dort in Halbpacht für die Marchesa Alfonsina da Luna; die ursprüngliche Aufteilung der Erträge zwischen Landbesitzerin und Pächtern hat sich unter einer ständig wachsenden Schuldenlast längst zu einer umfassenden Abhängigkeit verschoben. So darf niemand ohne Erlaubnis der Marchesa das Gut verlassen. Die Bauern führen nicht nur ein Leben in Armut, in der schon eine Glühbirne als seltenes Gut gilt, sondern auch in umfassender Isolation. Sie gewährt ihnen, so die Marchesa, eine wohltuende Unwissenheit, etwa darüber, dass feudale Besitzverhältnisse im Rest von Italien längst abgeschafft wurden. Nach Inviolata sind zwar elektrisches Licht, motorisierte Fahrzeuge und sogar schnurlose Telefone vorgedrungen, aber keinerlei Wissen über individuelle, soziale oder politische Rechte, nicht der geringste Funke der Aufklärung. Noch haben die Bauern nicht erkannt, dass die Marchesa nur durch sie Herrin ist. Und sie ihre Knechte.
Und doch liegt trotz Armut und Abhängigkeit auf dieser aus der Zeit gefallenen Welt ein sanftes Licht. Das Licht des Sommers. Es fehlt in der Welt, die sie empfängt, nachdem das System der Marchesa aufgeflogen ist, der „große Betrug“, le grande inganno, wie die Zeitungen titeln. In den Behausungen der in die Städte gewanderten Landarbeiter hat Rohrwacher diese Artikel aus den 1990er-Jahren gefunden, die sich über die illegale Ausbeutung einer von den Behörden entdeckten bäuerlichen Gemeinschaft empören. Nichts weniger als das große biblische Modell der Befreiung, den Exodus des jüdischen Volkes, zitiert der Carabiniere, der die Menschen von Inviolata mit einem Bus in ein besseres Leben bringen soll. „Mein Gott, sie warten darauf, dass das Wasser sich teilt“, sagt er, als er die Furcht begreift, die sie vor dem Überschreiten eines seichten Flüsschens zögern lässt, der Grenze ihres bisherigen Zuhauses. Eine Furcht, die nur allzu berechtigt ist. Denn im Italien der Städte erwartet sie, die Binnenmigranten, nicht etwa Bildung, Wohlstand und Unabhängigkeit, sondern eine Existenz am Rande der Gesellschaft, in der sie auf einer Industriebrache hausen und nur durch kleine Betrügereien, Diebstahl oder halblegale Geschäfte überleben können. Ihr Schicksal erweist das Versprechen der Befreiung als Projektion, es widerlegt die Grunderzählung der Moderne, die sich selbst als eine Bewegung des Fortschritts versteht.
Dennoch bewahren sie sich auch im kalten Winterlicht ihres sozialen Abseits eine bewegende, fast heitere Zuversicht. Vielleicht auch deshalb, weil unter ihnen ein ganz anderer lebt, eine unschuldige Seele, eine „anima inviolata“. Unschuldig wie vor dem Sündenfall. Auf dem Land ist Lazzaro der, der allen und jedem hilft und niemandem eine Bitte abschlägt. Nur manchmal versinkt er in eine tiefe Abwesenheit und ist dann, wie die Mädchen sagen, wie verzaubert. Keiner bemerkt, dass dieser gutmütige junge Mann, der wenig spricht, kaum etwas, vielleicht sogar gar nichts isst, es haben ja alle nur wenig. Er lässt sich verspotten und verlachen, ohne gekränkt zu sein. Manchmal wird er auch nur vergessen, wie in der Nacht, in der die anderen eine Verlobung feiern, und er bei den Hühnern eingesperrt wird, um sie vor dem Wolf zu schützen. „Felice“ nennt ihn der Filmtitel, glücklich. Dabei hat er noch weniger als die anderen, kaum mehr, als er auf dem Leib trägt. Nicht einmal Eltern, nur seine Großmutter. So muss unklar bleiben, wie er überhaupt in diese Welt gekommen ist.
Einspruch im Namen des heiligen Narren
Lazzaro ist die Figur des heiligen Narren, die in ihm wiederkehrt. Sie hat in der Filmgeschichte zahlreiche Verkörperungen gefunden, etwa im Stalker von Andrej Tarkowski, in Robert Bressons Landpfarrer oder in Lars von Triers Bess in „Breaking the Waves“. Das breite Spektrum der heiligen Narren des Films hat die rumänische Theologin Alina Birzache in ihrer Studie „The Holy Fool in European Cinema“ (New York, 2016) untersucht und dabei unter anderem deren kritische Funktion hervorgehoben. Sie stellen in ihrer Unfähigkeit, Regeln zu befolgen, die Gesellschaft, wenn nicht sogar den Lauf der Welt in Frage. Der heilige Narr ist wie Lazzaro der verkörperte Dissens. Er ist kein Clown, kein Spaßmacher und auch nicht der, der in Scherzen die Wahrheit sagen darf. Er macht sich nicht zum Richter, nicht zum Anwalt einer besseren Moral oder zum Sprachrohr einer höheren Einsicht. Er widerlegt, was ist, durch das, was er ist. Vom Wissen verschont, kann er sogar glücklich sein.
Wie für einen seiner literarischen Ahnen, den Fürsten Myschkin in Dostojewskis „Der Idiot“, geht es auch für Lazzaro nicht dauerhaft gut. Der Sohn der Marchesa, Tancredi, ein launenhafter und grenzenlos selbstverliebter Mensch, macht sich seine Wehrlosigkeit zunutze. Zunächst nur, um sich bedienen zu lassen in einem Versteck, aus dem heraus er mit der Vorspiegelung, entführt worden zu sein, die eigene Mutter zu erpressen versucht. Zum Zeitvertreib erklärt er Lazzaro, dass sie Brüder seien, mindestens Halbbrüder, und schenkt ihm als Zeichen ewiger Verbundenheit eine selbstgebastelte Gummischleuder. Was für Tancredi unterhaltsame Einfälle sind, stellen für Lazzaro bindende Wahrheiten dar. Die Nähe zu Tancredi, in dessen Typus sich die Vermischung von Entertainment und Manipulation, spekulativem Kalkül und Betrug der Berlusconi-Ära schon abzeichnet, wird dem heiligen Narren zum Verhängnis. Wie vergiftet, wird er krank. Alle glauben, dass er stirbt. Auf der Suche nach Tancredi, dessen Entführungsfarce inzwischen aufgeflogen ist und die Carabinieri nach Inviolata gelockt hat, stürzt er taumelnd vor Schwäche an einer Felskante in den Abgrund. Und bleibt tot liegen. Oder nur: wie tot?
An dieser Bruchstelle, zwischen den beiden Teilen des Films, hat Alice Rohrwacher eine magische Montage eingefügt. Im Bus, auf der Fahr in das Italien der Moderne, erzählt ein junges Mädchen, Antonia, ihrem kleinen Brüder die Legende vom alten Wolf, der, ausgestoßen und hungrig, einen Heiligen findet und verschont, weil er den Geruch eines guten Menschen wahrnimmt. In den menschenleeren Bergen um das verlassene Inviolata findet ein Wolf, als habe die Legende Gestalt gewonnen, den wie tot daliegenden Lazzaro – und erweckt ihn zu einem zweiten Leben. Und schließlich zerbricht die Einheit der Zeit und schiebt sich neu ineinander. Wenn Lazarro, jung wie zuvor, ein versprengtes Grüppchen der ehemaligen Dorfbewohner wiederfindet, sind sie um Jahre, um ein Jahrzehnt oder mehr gealtert. Wie Tancredi, der sich erneut als sein Unglück erweist.
Der Wolf muss nicht mehr aus der Kirche vertrieben werden
Alice Rohrwacher hat verneint, dass sie mit Lazzaro den von Jesus auferweckten Lazarus von Bethanien aus dem Johannesevangelium gemeint habe. Ihr Lazzaro verkörpere den seltenen und selten erkannten guten, den bedingungslos guten Menschen. Ihre Erzählung, so Rohrwacher, greife nicht auf spezifisch christliche, sondern auf vorbiblische Motive zurück. In „Glücklich wie Lazzaro“ lässt sich beobachten, wie religiöse und profane Elemente aus verschiedensten Quellen, poetische Erfindungen und realistische Beobachtungen sich mischen. Der heilige Narr ist christlich, der Wolf ein magisches Totemtier. Man muss ihn nicht aus der Kirche vertreiben, wie es Lazzaro und den Seinen einmal widerfährt. Zur Strafe geht die Musik mit den Vertriebenen mit.
Fotos: Piffl