Versicherungsvertreter - Die erstaunliche Karriere des Mehmet Göker

Dokumentarfilm | Deutschland 2011 | 79 (TV 45) Minuten

Regie: Klaus Stern

Dokumentarfilm über Aufstieg und Fall eines Kassler Unternehmers, der als Versicherungsmakler zunächst das große Geld macht, schließlich aber mit seiner Firma Insolvenz anmelden muss. Statt wie üblich chronologisch zu erzählen, entwirft der Film das Porträt des Aufsteigers als Collage; neben selbst gedrehtem Material werden auch Aufnahmen des Unternehmens und der Mitarbeiter, die diese zur Verfügung stellten, verwendet. Mit viel Gespür für Realsatire gelingt ein ebenso unterhaltsamer wie erhellender Blick hinter die Kulissen der Ökonomie. (Das Fernsehen zeigte auch eine 45-minütige Kurzfassung, die dank der vorzüglichen Verdichtung durch den Regisseur und seine Cutterin Friederike Anders ebenfalls überzeugt.) - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Sternfilm/WDR
Regie
Klaus Stern
Buch
Klaus Stern
Kamera
Harald Schmuck
Musik
Michael Kadelbach · Raffaela Jungbauer
Schnitt
Friederike Anders
Länge
79 (TV 45) Minuten
Kinostart
08.03.2012
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Turbine Medien (16:9, 1.78:1, DD2.0 dt.)
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Diskussion
Klaus Stern hat erneut einen Unternehmer mit Hang zum Größenwahn ausfindig gemacht und ihn über einen längeren Zeitraum mit der Kamera begleitet. Auch dieser Protagonist stammt wie die tragikomischen Helden seiner Filme „Weltmarktführer“ (fd 36 903) und „Henners Traum“ (fd 39 206) aus Sterns Heimat, dem Großraum Kassel. Der jüngste Film, dessen Titel eine bewusste Untertreibung ist, erzählt die Geschichte des wundersamen Aufstiegs und jähen Absturzes von Mehmet E. Göker. Ein heute 32-jähriger, türkischstämmiger Mann, der eine Ausbildung zum Versicherungskaufmann macht, erst im Alter von 22 Jahren aus der elterlichen Wohnung in Kassel auszog, mit 25 aber bereits seine erste Million verdient hatte. Mit seiner Firma MEG (benannt nach seinen Initialen), die zu Spitzenzeiten weit über tausend Mitarbeiter beschäftigte, machte er gigantische Umsätze. Das Geschäftsprinzip der MEG war denkbar einfach. Im Auftrag großer Versicherungen verkaufte Göker Policen für private Krankenversicherungen am Telefon, wofür ihm seine Auftraggeber satte Provisionen zahlten. Das System funktionierte, bis die Versicherungen zunehmend Geld zurückverlangten, weil immer mehr der von der MEG vermittelten Neukunden ihre Verträge wieder kündigten, die Provisionen aber an eine Mindestlaufzeit gebunden waren. Ende 2009 war der Traum vom ganz großen Geld ausgeträumt, und Göker musste Insolvenz anmelden. Zudem wurde er wegen Steuerhinterziehung in Millionenhöhe angeklagt. Mit dieser Geschichte allein hätte der umtriebige Unternehmer vermutlich noch keinen Protagonisten für einen Dokumentarfilm abgegeben. Doch Göker führte in jeder Hinsicht ein Leben auf der Überholspur. Er leistete sich einen Fuhrpark voller Luxus-Karossen, rauchte dicke Havanna-Zigarren, träumte davon, zum weltgrößten Versicherungsmakler aufzusteigen und umgab sich mit VIPs aus Politik, Wirtschaft und Showbiz, die die Einladungen zu seinen rauschenden Partys gern annahmen. Stern baut sein Porträt dieses Aufsteigers aus kleinen Verhältnissen nicht chronologisch auf, sondern setzt es aus einer Vielzahl von Puzzleteilen zusammen. Neben selbst gedrehtem Material verwendet der Film viele Sequenzen von ausladenden MEG-Betriebsfeiern, die Göker ihm bereitwillig zur Verfügung stellte, sowie Handyaufnahmen von Mitarbeitern aus dem Büroalltag oder von opulenten Betriebsausflügen nach New York oder auf die Malediven. In diesen Szenen sieht man einen ständig unter Volldampf stehenden Göker, der seine Angestellten mal mit schlichten Allgemeinplätzen („Lebe deinen Traum!“) antreibt, mal auf Feierlichkeiten vor Neueinsteigern niederkniet, ihnen einen dicken Siegelring überreicht und ihnen das Versprechen abnötigt, ihr Leben lang alles für die Firma zu geben. In der Mischung aus Pomp und Banalitäten haben diese Veranstaltungen große Ähnlichkeit mit den Initiationsriten obskurer Sekten. Und man reibt sich verwundert die Augen, dass nicht nur junge Menschen mit starrem Blick aufs Geld diesem Firlefanz auf den Leim gingen, sondern dass auch Vorstandsvorsitzende großer deutscher Versicherungen diesen Göker-Shows mit glänzenden Augen beiwohnten. Dass sich nach dem Kollaps der MEG vor der Kamera niemand mehr äußern wollte, ist angesichts solcher hochnotpeinlichen Bilder nur zu verständlich. Statt dessen nehmen ehemalige MEG-Mitarbeiter kein Blatt vor den Mund. Solche, die Göker bis zum Schluss die Treue hielten, und solche, die frühzeitig ausstiegen, weil ihnen der Unternehmer und sein Geschäftsgebaren irgendwann suspekt wurden. „Gier frisst Hirn“, fasst einer von ihnen das System Göker einmal zusammen. Dass auch diese Dokumentation, wie fast alle Filme von Klaus Stern, einen hohen Unterhaltungswert besitzt, hat damit zu tun, dass Stern auch auf das Mittel der Realsatire setzt. So begegnet man beispielsweise einem ehemaligen Leibwächter Gökers, der sich im Überschwang der Bewunderung das MEG-Logo auf den Unterarm tätowieren ließ, jetzt aber nach Möglichkeiten sucht, das peinliche Schandmal wieder zu entfernen oder zumindest überdecken zu lassen. Und wenn Göker in der MEG-Zentrale mit reichlich Pathos in der Stimme erklärt, warum über seinem Schreibtisch große Porträts seiner Idole hängen, und der Blick dann auf Abbildungen seines Vaters, Mahatma Ghandis und des „Virgin“-Gründers Richard Branson fällt, weiß man auch nicht recht, ob man nun lachen oder weinen soll. Mit „Versicherungsvertreter“ gelingt es Stern einmal mehr, einen ebenso entlarvenden wie kurzweiligen Blick hinter die Kulissen der Ökonomie zu werfen. Wenn der Film nicht ganz an seine früheren Dokumentationen heranreicht, hat das in erster Linie mit der Eindimensionalität seines Protagonisten Mehmet E. Göker zu tun, der um einiges schlichter gestrickt ist als Tan Siekmann („Weltmarktführer“) oder Henner Sattler („Henners Traum“).
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