Zeit des Zorns (2010)

Drama | Iran/Deutschland 2010 | 91 Minuten

Regie: Rafi Pitts

Ein Iraner verliert seine Frau und seine Tochter, die während einer Demonstration von Polizisten erschossen werden. Sein Zorn entlädt sich in einem Racheakt, der ihn alsbald zum Gejagten macht. Ein sprödes, als Mischung aus neorealistischer Bestandsaufnahme und Rache-Thriller entwickeltes Drama, das das Spannungspotenzial der Geschichte konsequent unterspielt und aufgrund einer von Brüchen gezeichneten Erzählstruktur die Identifikation mit den Figuren erschwert. Stattdessen zeichnet er das mit trist-poetischen Bildern arbeitende Porträt einer Gesellschaft in politischer Eisesstarre. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
SHEKARCHI
Produktionsland
Iran/Deutschland
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Twenty Twenty Vision/Aftab Negaran Prod./ZDF-arte/Pallas Film
Regie
Rafi Pitts
Buch
Rafi Pitts
Kamera
Mohammad Davudi
Schnitt
Hassan Hassandoost
Darsteller
Rafi Pitts (Ali Alavi) · Mitra Hajjar (Sara, Alis Frau) · Ali Nicksaulat (Polizeioffizier) · Hassan Ghaleoni (Polizist) · Manoochehr Rahimi (Inspektor)
Länge
91 Minuten
Kinostart
08.04.2010
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Neue Visionen (16:9, 1.85:1, DD5.1 Farsi & dt.)
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Diskussion
Die Welt, in der sich Ali, die Hauptfigur von „Zeit des Zorns“, bewegt, strahlt schon lange, bevor es in der Handlung tatsächlich die ersten Toten gibt, etwas von einem in Monotonie erstarrten Totenreich aus: Triste Wohnsilos, Beton und Autobahnen bestimmen das Stadtbild Teherans. Die Wälder, in denen Ali an freien Tagen jagt und in denen die Handlung am Ende des Films ihrem gewaltsamen Ende entgegen geht, sind winterlich-kahl und bar jeglichen Grüns: kein harmonischer Naturraum, der eine Alternative zur beengenden Stadtwelt böte, sondern ein Irrgarten grau-brauner Stämme. Sonne oder blauer Himmel sind kaum zu sehen; Zwielicht oder nächtliches Dunkel (Ali arbeitet in der Nachtschicht einer Sicherheitsfirma) prägen die Atmosphäre. Bedrückend wie diese Lebenswelt wirken auch die Umstände, die Alis Dasein prägen: Die Nachtschicht ist gewissermaßen die Verlängerung einer Gefängnisstrafe, die er gerade abgesessen hat; sie sorgt dafür, dass er seine Frau und seine kleine Tochter kaum zu sehen bekommt. Allerdings scheint er auch von sich aus die Einsamkeit zu suchen: Freundschaften oder engeren Kontakt zu Kollegen gibt es nicht; seinem Hobby, dem Jagen, geht er alleine nach. Dieses wenig anheimelnde Lebensgebäude bricht zusammen, als Alis Frau Sara und die kleine Tochter spurlos verschwinden. Nach quälend langen Stunden in den Fluren von Krankenhäusern, bei der Polizei und bei demütigenden Verhören erfährt Ali, dass Sara bei einer Demonstration von der Polizei erschossen wurde. Die verzweifelte Hoffnung, wenigstens sein Kind wieder zu finden, zerschlägt sich schließlich ebenfalls. Darauf brennen bei Ali die Sicherungen durch; er nimmt sein Gewehr und zielt wahllos auf den ersten Polizeiwagen, der ihm ins Visier kommt. „Zeit des Zorns“ macht es einem nicht leicht, sich emotional auf die Handlung einzulassen: Die Dramatik der Ereignisse wird konsequent unterspielt; darauf, mitreißende Spannungsbögen und gefühlsgeladene Höhepunkte, die der Stoff durchaus bereit hält, wirkungsvoll auszuinszenieren, wird verzichtet. Ali, den Regisseur Rafi Pitts selbst spielt, erscheint von Anfang an als verschlossener, in sich gekehrter, grimmiger Charakter; die Fallhöhe, die der Verlust seiner Lieben für ihn bedeutet, lässt sich so allenfalls erahnen. Zudem wirkt die Erzählstruktur des Films seltsam lose und brüchig: Da ist zunächst die Porträtierung von Alis normalem Leben; dann folgen als nächste Kapitel die Odyssee durch Ämter und Straßen bei der Suche nach Frau und Tochter und schließlich der Polizistenmord mit der anschließende Jagd durch die Wälder, bei der Ali bald in die Hände zweier Polizeibeamter gerät. Mit jedem dieser drei Kapitel werden neue Figuren eingeführt, ohne dass sie Kontur gewinnen könnten, bevor sie wieder aus der Handlung verschwinden. So sperrig der Film, der neorealistische Bestandsaufnahme und Rache-Thriller gleichzeitig ist, dabei wirkt, so nachhaltig prägen sich seine großartigen, düster-poetischen Bilder und die Atmosphäre latenter Spannung und unterschwelliger Verzweiflung aber doch ins Gedächtnis ein. Ähnlich wie in „It’s Winter“ (fd 38 408) gelingt Pitts ein anstrengendes, aber lange nachwirkendes Porträt einer Gesellschaft in sozialer, politischer und emotionaler Eisesstarre – hier forciert dadurch, dass ausgerechnet die Frauen, die Pitts als Garanten für ein Mindestmaß an Normalität, als (schwachen) Motor für einen Aufbruch und als Wärmezentrum darstellt, ausgelöscht werden und nur eine männliche Hauptfigur übrig bleibt, die von Anfang an in einer Art von „innerer Emigration“ zu leben scheint. Dass Pitts dieses Filmprojekt, das sich kritisch mit dem Machtmissbrauch der Behörden, mit Polizeigewalt und -korruption auseinander setzt, überhaupt durch die Zensur bekommen hat, ist erstaunlich. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass ihm eine gezielte politische Stoßrichtung fehlt. Die Gewalt, in der die Hauptfigur schließlich einen Kanal für ihren latenten Zorn findet, wird – und darin unterscheidet sich der Film beispielsweise von den meisten US-amerikanischen Genre-Verwandten – nicht als revolutionäres Aufbegehren inszeniert; produktive Züge einer „recreation through violence“ will ihr der Regisseur nicht abgewinnen. Stattdessen scheint sie als weiterer sinnfreier Zerstörungsakt. Mögliche Ausbrüche aus dem Totenreich, als das Pitts die iranische Gesellschaft porträtiert, kann oder will er nicht aufzeigen.
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