Unterwegs (2003)

Drama | Deutschland 2003 | 80 Minuten

Regie: Jan Krüger

Ein junges Pärchen mit Tochter begegnet auf einem brandenburgischen Zeltplatz einem herumstreunenden Jugendlichen. Gemeinsam brechen sie auf, um an der polnischen Ostseeküste für kurze Zeit Zuflucht zu finden. Zunächst verläuft die Reise idyllisch und ist für alle mit großen Erwartungen verbunden, doch in Polen verliert die Sonne ihren Glanz, die Dreierbeziehung bekommt Brüche. In markanten Momentaufnahmen, begleitet von verblassten grau-weiß-blauen Tönen der Kamera, beweist das stille Kammerspiel und stimmungsvolle Road Movie bemerkenswerte psychologische Reife und einen ausgeprägten Stilwillen. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Schramm Film/Kleines Fernsehspiel
Regie
Jan Krüger
Buch
Jan Krüger
Kamera
Bernadette Paassen
Musik
Max Müller
Schnitt
Natali Barrey
Darsteller
Anabelle Lachatte (Sandra) · Florian Panzner (Benni) · Martin Kiefer (Marco) · Lena Beyerling (Jule) · Agnieszka Grochowska (Kasia)
Länge
80 Minuten
Kinostart
17.06.2004
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Road Movie
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Diskussion
Eine fast alltägliche Szene: Ein kleines Mädchen läuft weinend einen Waldweg entlang, auf der Suche nach der Mutter. Diese ist nur wenige Meter entfernt, krank vor Angst und fassungslos, wie sich das Kind so weit vom Urlaubsort entfernen konnte. Ein kurzer Moment, und sie liegen sich in den Armen. Ausgerechnet der Mann, dem die Mutter für einige Tage Vertrauen schenkte, lockte die Tochter in den Wald und ließ sie dort allein zurück. Eine Schrecksekunde, in der der Atem stockt; dann, noch diffus, das erlösende Gefühl, gerettet zu sein. Beklemmung und Erleichterung wechseln einander ab, bilden einen Rhythmus, den man als Bewegungsgesetz des Films erkennt – und als sein Thema. Es drängt sich körperlich auf, bestimmt den Atem des Zuschauers, dirigiert seinen Blick auf die Figuren.

„Unterwegs“ ist das Spielfilmdebüt des 30- jährigen Jan Krüger, Absolvent der Kölner Kunsthochschule für Medien (KHM), der bereits mit seinem Abschlusskurzfilm „Freunde“ (2001) auf sich aufmerksam machte („Silberner Löwe“ in Venedig). Mit Rückenwind der Talentschmiede vom Kleinen Fernsehspiel (ZDF) schrieb Krüger das Drehbuch für seinen ersten Spielfilm und gewann im Frühjahr 2004 einen der drei „Tiger-Awards“ in Rotterdam. „Unterwegs“ ist ein fürs „junge deutsche Kino“ exemplarischer Film, ebenso schmerzhaft wie tröstlich, inszeniert mit stilsicherer Hand. Die Machart orientiert sich am Dokumentarischen, ohne jedoch im Oberflächenrealismus zu verharren. Die Grundidee erinnert an Polanskis „Messer in Wasser“ (fd 12 379) und Pasolinis „Teorema“ (fd 15 863), eine klassische Ménage à trois zwischen einer Frau und zwei Männern: Ein Pärchen mit Kind begegnet beim Campen in Brandenburg einem jungen Mann, der scheinbar ziellos in der Gegend herumstreunt. Hemmungslos zieht Marco alle Aufmerksamkeit auf sich und überredet Sandra und Benni zur Weiterfahrt an die polnische Ostsee. So, wie die Landschaft im Vorbeifahren immer rohere Züge annimmt, so geht das Paar im Verlauf der Reise zunehmend distanziert miteinander um. Sandra blüht auf, entdeckt ihre ungelebten Sehnsüchte, balanciert auf der Grenze von Tag und Nacht, Wirklichkeit und Traum. Marco ist zu starken Gefühlen fähig. Zu anderen kaum. So intensiv er Sandra verehrt, so inständig fordert er mit seiner ambivalenten sexuellen Präsenz Benni heraus, der den Annäherungsversuchen des Jüngeren fasziniert und befremdet zugleich begegnet. Mal erscheint der rätselhafte Eindringling als Verführer, mal als Suchender, der sich nach Geborgenheit und einem Zuhause sehnt. Mit seinen provozierenden Blicken weckt er zwar die Lebensgeister, verursacht aber auch Gewissenskonflikte. Unruhe durchdringt die Gesichter der Figuren. Das Trio ist umgeben von einer seltsamen Aura der Kraftlosigkeit, treibt scheinbar ziel- und appetitlos durchs Leben. Nicht ohne Grund gibt der Film keine Auskunft über den sozialen Hintergrund der aus der Zeit gefallenen Helden. Es sind Zeitgenossen von jener Sorte, der die Suche nach Liebe und die Flucht vor ihr eins ist.

Im „wilden Osten“ stellt das Paar überrascht fest, dass Marco perfekt Polnisch spricht und sich vor Ort bestens auskennt. Mühelos sorgt er für eine billige Unterkunft und stellt Kontakt zu polnischen Jugendlichen her. Gemeinsam feiert man Feste im Freien, konsumiert Drogen und Alkohol, hat Sex unter freiem Himmel. Man erwartet, dass irgendetwas Unvorhersehbares passiert, doch die Geschichte erhält ihre Konturen aus dem Ungesagten. Nur ein kurzer Moment von Sandras ausschweifender Selbstvergessenheit kündigt die Möglichkeit einer bevorstehenden Wende an. Was hier mit größter Zurückhaltung, sparsam und getränkt in weiß-blau-graue Töne der Kamera geschildert wird, ist das Ende einer Liebe. Benni wird zum Verräter, weil er sich als Verratener, Verlassener fühlt. Marco erscheint am Ende als Katalysator für Sandras Befreiung aus unsichtbaren Fesseln. Auch er fühlt sich missbraucht und rächt sich, als er ihre Tochter in den Wald entführt. Mit präzisem Gespür für die Dynamik einer Dreiecksbeziehung erforscht die psychologische Studie, wie das Gefühlswirrwarr eskaliert, um am Ende doch die Ruhe einkehren zu lassen.

Lakonisch und nicht ohne Humor vereint „Unterwegs“ Bruchstücke, bevor diese wieder auseinander streben, weil die Kräfte der Abstoßung größer sind als die der Anziehung. Der Film überzeugt durch den neugierigen, unverbrauchten Blick auf das Liebes- und Lebensleid heutiger „Thirtysomethings“, das geprägt ist von der zaghaften Sehnsucht nach einem authentischen Dasein abseits lärmender deutscher Metropolen. Die Panorama-Sequenzen der Handkamera, die spröden, kaum ausgeleuchteten Einstellungen und eine stimmige, unaufdringliche musikalische Untermalung tragen zur Leichtigkeit des im Grunde düsteren Road Movies bei. Die Probleme der Figuren werden nur angetippt, ohne zwanghaft auf eine Lösung zu bestehen: Am Ende des sommerlichen Liebesreigens gibt es nur Verlierer und vielleicht den einen oder anderen Abschied von der Jugend.

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