Im vom Krieg geprägten iranischen Teil Kurdistans wandern zwei Lehrer mit großen Schultafeln auf dem Rücken durch die karge gebirgige Grenzlandschaft Richtung Irak, um sich auf der Suche nach Schülern Verpflegung und Unterkunft zu verdienen. Der Eine schließt sich einer Gruppe von Kindern an, der Andere Nomaden, was in parallel laufenden Geschichten erzählt wird. Im Kampf ums Überleben opfern beide ihre Schultafeln, weil ihre sozialen und humanitären Fähigkeiten mehr gefragt sind als ihre pädagogischen. Eine trotz inszenatorischer Schwächen eindringliche poetisch-philosophische Studie, die stellenweise dokumentarisch wirkt. (O.m.d.U.)
- Sehenswert ab 16.
Schwarze Tafeln
- | Iran/Italien 2000 | 85 Minuten
Regie: Samira Makhmalbaf
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Filmdaten
- Originaltitel
- TAKHTÉ SIAH
- Produktionsland
- Iran/Italien
- Produktionsjahr
- 2000
- Produktionsfirma
- Makhmalbaf Film House/Fabrica Cinema
- Regie
- Samira Makhmalbaf
- Buch
- Samira Makhmalbaf · Mohsen Makhmalbaf
- Kamera
- Ebrahim Ghafori
- Musik
- Mohamed Reza Daryishi
- Schnitt
- Mohsen Makhmalbaf
- Darsteller
- Saïd Mohamadi (Reboir) · Bahman Ghobadi (Said) · Behnaz Jafari (Halaleh) · Rafat Moradi (Reboir)
- Länge
- 85 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Zehn große schwarz-braune Schultafeln mit weißer Kreideschrift bewegen sich langsam den Berg hoch. Die Träger darunter sieht man nicht – bis sie anfangen zu rennen und sich auf den Boden werfen, weil ein Bomber über das Gebirge fliegt. Mit diesen eindringlichen Bildern beginnt der zweite Film der Iranerin Samira Makhmalbaf. Im landschaftlich kargen Grenzgebiet zwischen dem kurdischen Teil des Iran und dem Irak herrscht Krieg. Das ist nur einer von vielen Aspekten des Films, der vom Überleben handelt. Die Lehrer, die ihre Schultafeln wie ein Schneckenhaus auf dem Rücken tragen, sind auf der Suche nach Schülern, denen sie Schreiben und Lesen beibringen können, um als Gegenleistung ein Stück Brot oder eine Unterkunft zu erhalten. Nach der Bedrohung aus der Luft geht jeder seines Weges. Einer von ihnen, Reboir, trifft einen Jungen, der denselben Vornamen trägt und zu einer Kinderbande gehört, die Diebesgut über die Grenze schmuggeln. Reboir senior redet so lange auf sie ein, bis sie ihn tatsächlich mitnehmen und er dem jungen Reboir auf ziemlich chaotische Weise beibringt, seinen Namen zu schreiben. Als sich einer der Jungen am Bein verletzt, zerstört Reboir seine Tafel, damit das Bein geschient werden kann. Am Ende, als die Jungen versteckt in einer Herde Ziegen über die Grenze wollen, werden sie entdeckt und geraten in den Kugelhagel der Grenzsoldaten.
Said, der Lehrer aus der parallel laufenden zweiten Geschichten, stößt zuerst auf einen alten Mann, dem er einen Brief seines Sohnes vorlesen soll. Doch er versteht dessen Sprache nicht, will dies aber nicht eingestehen und erfindet eine Botschaft des Sohnes, die den Alten hoffnungsfroh stimmt. Später begegnet Said einer Gruppe Nomaden, die in den Irak zurück wollen, und bietet sich ihnen gegen Verpflegung als Führer an –als Mann für alles, wenn sie ihn nur mitnehmen. Die Nomaden sind misstrauisch und beachten ihn erst nicht. Selbstlos stellt Said seine Tafel als Trage für einen ermatteten Mann zur Verfügung, und wenig später sogar als Mitgift, als die einzige Frau der Gruppe, eine Mutter mit Kind, ihn heiraten will. Doch am selben Tag, an dem sie heiraten, werden sie auch wieder geschieden. Die junge Frau zieht mit den Nomaden über die Grenze und Said bleibt zurück – ohne seine Tafel, die er der Frau lässt.
Samira Makhmalbaf war 20 Jahre, als sie diesen Film drehte, für den sie im Jahr 2000 beim Festival von Cannes den Jurypreis erhielt. Sie schrieb das Drehbuch gemeinsam mit ihrem Vater, dem berühmten Regisseur Mohsen Makhmalbaf, von dem sie auch das Filmemachen lernte. Wie bei ihrem ebenfalls hochdekorierten Erstlingsfilm „Der Apfel“ (fd 33 986) ist es schwer einzuschätzen, inwieweit ihr Vater auch bei der Regie zur Hand ging; da es aber einen Dokumentarfilm über die Dreharbeiten gibt, weiß man, dass die schöne Grundidee des Films – die Lehrer mit ihren Tafeln, die sich ihre Schüler selbst suchen müssen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen – von Samira stammt. „Schwarze Tafeln“ ist das, was man einen typischen iranischen Film nennt: wortkarg, schöne Bilder, Kinder, gebildete Menschen treffen auf einfache Menschen, eine universelle Geschichte. Die einsame Berglandschaft ist dieselbe wie in „Die Zeit der trunkenen Pferde“ (fd 35 110) von Bahman Ghobadi (der hier als Darsteller des Said zu sehen ist), und wie viele andere iranische Filmemacher arbeitet auch Samira weitgehend mit Laiendarstellern. Der inhaltlich komplexe Film hat durchaus einige inszenatorische Schwächen und Längen und ist von daher nicht ganz so beeindruckend wie ihr Debütfilm. Das Ungewöhnliche an ihm ist vor allem, dass der Regisseurin ein Road Movie mit Fußgängern gelungen ist, einen Film, in dem es fast nur Männer gibt, dass er in Kurdisch gedreht ist (im Original mit Untertitel in Farsi) und dass zwei stimmige Geschichten sehr lose miteinander verbunden sind, fast schon im Sinne einer nachdenklichen Lektion oder auch einer biblischen Geschichte, dass jeder sein Kreuz tragen muss, nicht nur, weil das Leben in der kaum besiedelten Bergregion voller Entbehrungen ist.
Im Vordergrund steht nicht das Wissen in Form der Tafeln, sondern der soziale und humanitäre Aspekt, weil es darum geht, wie sich ein Fremder in eine Gruppe integrieren kann. Beide Lehrer schaffen es eigentlich nur, weil sie penetrant und zuvorkommend zugleich sind – und weil sie erkennen, dass es wichtiger sein kann, anderen beim täglichen Kampf ums Überleben zu helfen als ihnen Schreiben und Lesen beizubringen. Symbol dafür ist, dass beide Lehrer ihre Schultafeln freiwillig weggeben und gerade jener Junge stirbt, der ein bisschen schreiben gelernt hat; auch, dass der Lehrer gar nicht die richtige Sprache beherrscht und er in dem Fall, wo er als Schriftgelehrter versagt, als Psychologe erfolgreich ist. So ist der Film auch eine philosophische Studie über das Überwinden von politischen, sozialen und mentalen Grenzen, was man erst mühsam lernen muss, aber eben auch lernen kann.
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