Benny's Video

Drama | Österreich/Schweiz 1992 | 105 Minuten

Regie: Michael Haneke

Ein jugendlicher Wiener Gymnasiast, dessen Fantasie durch Fernsehen, Videofilme und dröhnende Musik überfüttert ist, tötet halb aus Mutwillen, halb aus Neugier ein gleichaltriges Mädchen. Ohne Anzeichen innerer Erregung beseitigt er die Spuren der Tat und findet in seinen Eltern "tüchtige" Verbündete. Eine beklemmende, komplexe moralische Fabel über die Entfremdung von Menschen zu Wesen mit erschreckender emotionaler Teilnahmslosigkeit. Der dicht inszenierte, hervorragend gespielte und fotografierte Film umschreibt mit verstörender Konsequenz den Verlust von Wirklichkeitsgefühl, Leidenschaft und Leidensfähigkeit. - Sehenswert.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
BENNY'S VIDEO
Produktionsland
Österreich/Schweiz
Produktionsjahr
1992
Produktionsfirma
Wega-Film/Bernhard Lang AG
Regie
Michael Haneke
Buch
Michael Haneke
Kamera
Christian Berger
Musik
Johann Sebastian Bach
Schnitt
Marie Homolkova
Darsteller
Arno Frisch (Benny) · Angela Winkler (Mutter) · Ulrich Mühe (Vater) · Ingrid Stassner (Mädchen) · Stephanie Brehme (Evi)
Länge
105 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion

Ein Video ist gleich zu Beginn zu sehen, mit relativ verwaschenen Konturen: einem quiekenden Schwein wird die Schlachterpistole an die Stirn gedrückt, der Schuß fällt, es bricht zusammen. Das Videoband wird zurückgespult, die Schlachtung erneut betrachtet. Wer starrt da so fasziniert auf Exekution und Todeszuckungen? Benny, circa 13 Jahre alt, hat in seiner Fantasie einen leichten Hang zu brutalen Sachen - und diese Fantasie wird stark genährt, wenn nicht überfüttert durch Fernsehen, Videofilme aus dem Verleihladen um die Ecke, dröhnende Musik. Er ist süchtig. Stets sind die Apparate angeschaltet. Nur nachts nicht, wenn er schläft. Dann umhüllt ihn unheimliches Dunkel. Vor den Fenstern seines Zimmer sind die Vorhänge zugezogen, die „Aussicht“ vermittelt ihm ein Videobild auf dem Monitor: Straßenverkehr, Häuser gegenüber im Anschnitt, der Schauplatz ist Wien (das spielt aber keine Rolle). Benny ersetzt reale Außenwelt durch eine künstliche aus Flimmer, Gewalt und Lärm. Im übrigen ist er ein wohlerzogener, sanft, fast romantisch wirkender Bub: Arno Frisch beeindruckt vorzüglich durch seine nie nachlassende leise Präsenz, die schwebende, diskrete, beinahe traurige Verhaltenheit seines Ausdrucks.

Benny spricht ein junges Mädchen seines Alters an, nimmt es, das eher scheu, bescheiden ist, zu sich nach Hause, wo er oft alleine ist - die Eltern arbeiten beide -, macht eine Pizza warm, gibt ein bißchen an mit der gestohlenen Schlachterpistole, die der Zuschauer aus dem Video der Eingangssequenz schon kennt, setzt sie sich an die Brust, dann ihr, dann drückt er ab - halb aus Mutwillen, als gelte es eine Probe zu bestehen, halb aus Neugier, was geschehen werde, doch auch gleichmütig und beinahe zufällig. Weil das Mädchen elendiglich schreit, gerät er in Panik, er will ihr helfen, dann schießt er noch zweimal. Er ißt einen Yoghurt in der Küche, er macht Hausaufgaben; er schleppt die Leiche über den Boden, er putzt das Blut weg, ist er doch gewohnt, aufzuwischen, Spuren zu beseitigen, die Wohnung in makellosem Zustand zu hinterlassen. Bei dieser Anstrengung wird ihm warm, er zieht sich nackt aus, vor allem wohl, um seine Kleider nicht zu verunreinigen. Man sieht einen kühlen Körper, frei von anderen Konnotationen. Schließlich geht er zu Freunden. Der Schock beim Betrachter ist groß, zumal, da er beim Täter offensichtlich ausbleibt. Mit hochgereizter Aufmerksamkeit verfolgt man nach der Bluttat, gleichsam überwach, jede Bewegung, jede Handlung des Jungen und wartet auf Reaktionen, die bezeugen können: Jetzt wird ihm allmählich bewußt, was geschehen ist. Man muß lange warten, auch sind einige Anzeichen eher diffus, lassen nur unbestimmte Rückschlüsse auf seinen inneren Zustand zu: er rempelt einen Freund in der Klasse an, er läßt sich den Kopf kahlscheren (nicht zum Skin verwandeln, eher zum "Büßerhaupt"). Endlich führt er seinen Eltern das Videoband vor, das den Hergang der Tat zeigt. Kein Geständnis, keine Aussprache, Ein stummer Sohn läßt das untrügliche Gedächtnis des Aufzeichnungsapparats für sich "reden". Und sprachlos bleiben zunächst auch die Eltern.

Der Vater, ein stromliniengeformter, komplett assimilierter aufstrebender Mittelständler, faßt sich schneller und verschwendet nicht viel Zeit auf Reflexionen über das Schuldproblem. Er will die Leiche wegschaffen und so die Krise lösen. Die Mutter läßt sich sichtlich stärker erschüttern, unvermutet beginnt sie zu lachen, später einmal erleidet sie einen Heulkrampf. Aber die Eisdecke, die alles verdrängt, scheint sich bald wieder zu schließen. Während der "tüchtige Vater" seinen Plan umsetzt, wie auch immer, begleitet der Betrachter Mutter und Sohn ins ferne Ägypten, wo sie, dank der Lüge, eine Großmutter sei gestorben (eine makabre Verfälschung der Realität), eine Woche Auszeit nehmen. Immer noch scheint Benny vom Ungeheuerlichen weitgehend unberührt, immer noch sieht man, ob man will oder nicht, durch das Objektiv seiner Videokamera: auf Leute beim Paragliding, auf seinen Bauch ("Ich hab' einen Sonnenbrand"). Nach der Rückkehr scheint die Welt wieder in Ordnung zu sein. Sie feiern ein Fest mit der Tochter und ihren Freunden, die sich dem Pilotenspiel widmen. Viel Geld wandert durch Hände, sieht man durch Bennys Kamera, wie schon einmal, zu Anfang des Films. Geldgier und Festesfreude gehen eine enge Verbindung ein. Die Familie könnte zu vergessen beginnen. Da offenbart sich Benny plötzlich der Polizei. Als er hinausgeführt wird, stehen ihm auf dem Gang die Eltern gegenüber, in den Augen des Vaters zum ersten Mal ein Ausdruck, als wäre er dem Weinen nah (als Zeichen der Erleichterung, der Zustimmung oder des Vorwurfs?). Dann treten Vater und Mutter zur Vernehmung ein - gesehen durch die fest installierte Videokamera der Behörde.

Haneke bekennt in einem Gespräch, ihm ging es letztlich darum, die „emotionale Vergletscherung in den hochindustrialisierten Ländern“ zu zeigen. Er verfährt bei seiner Charakteristik dieser „Eiszeit“ systematisch und läßt nichts aus. Die Wohnung ist eingerichtet, als stamme sie aus den Schaufenstern etwas teurerer Möbelläden. Viele Flächen sind glatt wie die Scheibe eines Monitors. Dunkle Farben, hell schimmerndes Metall dazwischen, blitzsaubere Innenräume, die vom Schmutz der Außenwelt, der tristen Autostadt abstechen. Mahlzeiten am Eßtisch, vor einer mit Bildern bestückten Wand (ein Tapeteneffekt) verlaufen diszipliniert, kleine Bissen, kaum Geräusche, klinische Stille. Gedämpft und poliert ist der Charakter aller Lebensäußerungen in dieser Familie. Benny scheint ein Produkt dieser Umwelt zu sein, und die Eltern sind von Mitschuld nicht freizusprechen. Haneke nimmt als 50-Jähriger also nicht vorschnell Partei für eine Generation, um die andere zu belasten. Im Gegenteil, er verschont nicht einmal das Publikum, das, durch den Totschlag zur Investigation angestachelt, wiederholt gezwungen wird, sich der Blickperspektive Bennys einzufügen. Der Elan der Urteilsfreudigen wird gebremst, die Zuschauer an bedächtige Ratlosigkeit gewöhnt.

Ich habe, sagt Dr. Jekyll in Stevensons berühmter Erzählung von der unausweichlichen Persönlichkeitsspaltung des puritanischen Bürgers, neun Zehntel meines Lebens mit Arbeit, Tugend und Selbstzucht verbracht (effort, virtue, and control). Dennoch nimmt das unerfüllte Begehren in ihm Gestalt an: in Mr. Hyde. Es ist ein altes Konzept, das Haneke aufgreift, weiß man doch: Der scheinbare Gleichmut der harttrainiert Angepaßten ist mit methodischer Drosselung von Triebimpulsen erkauft. Dieses leise, beherrschte Kind ist auch verstockt, unfähig zum Eingeständnis von Angst. Einmal bittet er die Mutter, die Türen offen zu lassen, damit Licht in sein Zimmer fällt. Wollte er nur die Eltern belauschen oder fürchtete er sich? Es handelt sich auch um ein vertrautes Denkmodell: Der Blick durch die Kamera liefert nur einen Ausschnitt aus dem Zusammenhang, das dazwischengeschaltete Objektiv verändert die Wahrnehmung, die Medien verbiegen den Blick. Sie rauben das Gefühl für greifbare und begreifliche Wirklichkeit. "Ich wollt mal sehen, wie es ist", erklärt der Junge auf die Frage des Vaters, warum er "das" getan habe. Ist Benny ein Opfer -der Verhältnisse zu Hause, der Verführung durch die Medien, der Gewöhnung an Gewalt? Wenn der Film nur auf diese Erkenntnis hinausliefe, wäre er weniger bezwingend und überraschend. Haneke macht aus den vorgegebenen kulturpessimistischen Warnformeln und Drohprospekten etwas anderes: ein beklemmendes Rätselspiel über die Frage, wann und wo das Entsetzen zum Vorschein kommt. Die höchst kontrolliert geführte Kamera rückt oft an Menschen und Gegenstände heran, als wolle sie unter die allzu feste Oberfläche dringen. Einige Nahaufnahmen lassen diese Welt auch als befremdlich erscheinen, teilen den Zuschauern eine Erregung mit, die die handelnden Personen so auffällig vermissen lassen. Der Film beobachtet exakt, unablässig, gleichsam behavioristisch, einen extremen Fall von kaltsinniger Lebensmeisterung, von "coolen Attitüden", die Grauen erregen. Ein Horror-Film anderer Art über die rabiate Entfremdung von Menschen zu überlebensfähigen, weil unerschütterlichen Zombies. Hanekes Film hat nur scheinbar teil an der Kälte seiner Objekte. Er konstatiert den Verlust von Leidenschaft und Leidensfähigkeit, weil er von der Bedeutung des Verlusts weiß.

Haneke ist eine komplexe moralische Fabel und ein Meisterwerk von großer ästhetischer Dichte gelungen, raffiniert inszeniert und fotografiert, elegant montiert, rhythmisch subtil erzählt, mit Vorhalten, kleinen Beschleunigungen und Verzögerungen, ohne jede Starrheit -nicht zuletzt wird hier frei von abgewetzter Ornamentik gespielt, detailgenau und dennoch mit präzisem Umriß.

Kommentar verfassen

Kommentieren