"The Browning Version" ("Konflikt des Herzens",fd 1459), 1951 gedreht, ist einer der großen Filme des englischen Kinos in der Ara Alexander Kordas. Sein Regisseur Anthony Asquith, geriet sehr zu Unrecht in Vergessenheit. Seine psychologisch genauen, kammerspielhaften Filme erweisen sich auch heute noch als verbindliche Beschreibungen einer Epoche und eines Lebensstils. Es wird Zeit, Asquith (1902-1968) aus dem Schattendasein zu befreien, das er seit Jahrzehnten hinter seinen prominenten Landsleuten Carol Reed und David Lern führt.
Wer immer Asquiths "The Browning Version" einmal gesehen hat, wird den Film und die Überzeugungskraft seines Hauptdarstellers Michael Redgrave nicht vergessen haben. Umso mehr erstaunt es zunächst, daß ein junger Regisseur wie Mike Figgis (siehe fd 13/1993 und fd 16/1994) es unternimmt, den "Klassiker" neu zu verfilmen. Figgis wagt sich -, nach zwei kommerziellen Mißerfolgen in den USA ("Todestraum", fd 30 360, "Mr. Jones", fd 30 748) - zum ersten Mal an einen Stoff, der nicht nur zu den konstanten Bühnenerfolgen seines Heimatlandes gehört, sondern der auch bereits so vorbildlich auf die Leinwand gebracht wurde, daß eine Steigerung kaum vorstellbar ist. Von seinen bisherigen Arbeiten her - so faszinierend sie auf ihre Weise auch sein mögen - scheint Figgis überdies kaum prädestiniert, sich mit einem so "entlegenen" Sujet wie dem Stück Terence Rattigans zu befassen. Figgis war stets am besten, wenn er zeitgenössische Themen mit zumindest gemäßigtem Action-Einfluß behandelte. Doch daß ihn die Figur des Lehrers Crocker-Harris interessierte, nimmt weniger wunder, setzt man sie in Beziehung zu den Helden seiner früheren Filme. Sie alle sind Menschen auf der Grenze zwischen Melancholie und Vereinzelung, die Mühe haben, sich ihrer Umwelt mitzuteilen, und die - geradezu schicksalhaft - darunter leiden oder zugrundegehen. Der verschlossene, jede menschliche Regung unterdrückende Crocker-Harris mag Figgis als Symbolfigur einer Epoche erschienen sein, deren reservierte, auf äußere Haltung bedachte Lebensweise den Grund gelegt hat für viele Probleme in der heutigen englischen Gesellschaft).
Andrew Crocker-Hams ist Lehrer für klassische Sprachen. Seinen Schülern hat er das Lachen abgewöhnt seine Kollegen machen einen Bogen um ihn oder witzeln über ihn. Er ist ein penibler Pauker, leistungsversessen und scheinbar ohne jede emotionale Beziehung zu seiner Umwelt. Nur die Ausdruckskraft der großen griechischen Dichter und Philosophen vermag seiner Stimme für Augenblicke Leben zu verleihen, seine Augen bleiben auch dann starr und ausdruckslos, um nur ja nichts von seinen inneren Gefühlen zu verraten. Der Zuschauer trifft Crocker-Harris zum ersten Mal, als dessen Existenz bereits entschieden ist. Verheiratet mit einer um viele Jahre jüngeren Frau, die ihm nur noch mit Kälte und Erniedrigungen begegnet, geplagt von einer (nie näher definierten) Krankheit, die ihn dazu zwingt, den Schuldienst vorzeitig aufzugeben, steht Crocker-Harris an einem Punkt seines Lebens, der sein gesamtes bisheriges Sein in Frage stellt. Im Klassenraum behauptet er sich mit Strenge und Ordnung, draußen begegnet ihm eine Demütigung nach der anderen. Man versagt ihm die Pension, und seine Frau betrügt ihn nicht nur mit einem jüngeren Kollegen, sie schickt sich vielmehr an, ihn endgültig zu verlassen. Obwohl von seinen Schülern gefürchtet, hat sich Crocker-Harris außerhalb des Klassenraums nie durchzusetzen versucht. In seinem tiefsten Innern verschüchtert und unsicher hat er die Demütigungen des Alltags stets ohne Widerspruch hingenommen, sich jedes Mal ein wenig tiefer in die Zelle der Verzweifelung verkriechend. Ein einziger seiner Schüler scheint zu spüren, daß sich hinter der Unnachgiebigkeit und Verschlossenheit des Lehrers eine empfindliche, verletzte Seele verbirgt. Es ist nicht einmal ein besonders guter Schüler, kein Favorit von Crocker-Harris (denn Crocker-Harris hat keine Favoriten unter seinen Schülern), aber einer, der wie durch ein Wunder oder eine besondere Gabe etwas zu erkennen vermag, das keiner sonst bemerkt. Doch selbst er ist fassungslos, als er sieht, daß sein kleines Abschiedsgeschenk, Robert Brownings Übersetzung des "Agatnemnon", dem sonst so ausdruckslosen Crocker-Harris Tränen in die Augen treibt. Als dieser bei der Feierstunde zum Schluß des Schuljahres dann eine Rede hält, steckt er das vorbereitete Manuskript in die Tasche und drückt zum ersten Mal in seinem Leben aus, was ihn wirklich bewegt.
Terence Rattigans Stück kommt Mike Figgis' Interessen in mehr als einer Weise entgegen. Es ist eine Momentaufnahme, verdichtet auf wenige Tage vor Schluß des Schuljahres, die dennoch ein ganzes Leben, einen ganzen Charakter, eine ganze Gesellschaft umreißt. Das ist es stets gewesen, was Figgis in allen seinen Filmen angestrebt hat: nicht Geschichten zu erzählen, sondern die Geschichte durch den Blick in die Psyche eines Menschen gleichsam im Kopf des Zuschauers zu dramatisieren, Dabei haben ihn stets die Kontemplativen, die an sich und an ihrer Umwelt Leidenden mehr gefesselt als die Selbstgewissen, die Lebensleichten. In Crocker-Harris findet Figgis alles, was zu den Figuren seiner frìméreni (in der Gegenwart angesiedelten) Filme geführt hat. Und in der unbeirrten Konzentration auf das zur Maske gewordene Gesicht des Lehrers, dem Leidenschaft nur noch in den Versen des Aischylos, Leiden dagegen in jedem Augenblick seines Daseins, in jeder Geste seiner Mitmenschen und in jedem Ausdruck der ihn einschnürenden Konvention begegnet, erreicht er im Zuschauer abermals jene selten noch evozierte Bereitschaft, an einem Schicksal Anteil zu nehmen, das sich jedem Glanz und jeder Glorie verweigert. Auch dies ist wieder (wie "Stormy Monday", fd 27 046, und "Todestraum") ein fatalistischer Film, eine Beschreibung langsamer seelischer Zerstörung und fortschreitender Isolation, nur angesiedelt in einer anderen Zeit.
Dieser anderen Zeit, den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, entsprechend, hat Figgis andere Mittel der filmischen Umsetzung gewählt, sorgfältig Milieus und Atmosphären rekonstruierend, die dem 1948 Geborenen aus eigener Anschauung unbekannt sind. Erkennbar hat er sich dabei an Vorbilder aus der englischen Filmgeschichte angelehnt, erkennbar entgeht er dabei auch nicht immer dem Klischee. Doch sein Crocker-Harris ist in der ergreifenden Darstellung durch Albert Finney so sehr Zentrum des Interesses, daß gelegentliche Pauschalisierungen im Umgang mit der Zeit und ihren Repräsentanten kaum ins Gewicht fallen. "The Browning-Version" ist auch in dieser zweiten Filmfassung von unentziehbarer Eindringlichkeit. Die kleinen Korrekturen, die zum Beispiel an der Figur von Crocker-Harris' junger Frau angebracht wurden, die hier eine ambivalentere Person ist als in Asquiths Film, unterstreichen das Drama eher, als daß sie ihm abträglich wären. Nach wie vor erscheint Crocker-Harris, der Griechisch-Lehrer, als tragische Figur klassischer Definition. Nicht ohne eigene Schuld kann er zu dem geworden sein, was er ist, aber wer wollte ihm das Mitleid versagen, wenn er zum Schluß bekennt, daß er sich selbst wohl am wenigsten leicht vergeben könne. Es ist Mike Figgis' großes Verdienst, daß er auch den perspektivischen Vergleich mit der Ethik des Altertums m seinem Film fortbestehen läßt, obwohl dies ein Aspekt ist, der seit der Entstehung von Rattigans Bühnenstück (1948) sehr an Popularität verloren hat.