Elisa (1994)

Drama | Frankreich 1994 | 115 Minuten

Regie: Jean Becker

Ein 17jähriges Mädchen sieht in seinem Vater, der die Familie schon vor Jahren verlassen hat, den Schuldigen für den Selbstmord der Mutter und seine Heim-Kindheit und will ihn erschießen. Als es ihn nach langer Suche findet und kennenlernt, weicht der Haß langsam der Liebe. Ein einfühlsam inszeniertes Porträt einer verlorenen Jugend, getragen von Humor und einem liebevollen Blick auf die Personen. Ausgezeichnet fotografiert und eindrucksvoll gespielt, bietet der Film großes europäisches Gefühlskino zum Lachen, Weinen und Nachdenken. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
ELISA
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1994
Produktionsfirma
Films Christian Fechner/Solo/TF I/Canal/BNP Images 2
Regie
Jean Becker
Buch
Fabrice Carazo · Jean Becker
Kamera
Etienne Becker
Musik
Zbigniew Preisner · Serge Gainsbourg · Michel Colombier
Schnitt
Jacques Witta
Darsteller
Vanessa Paradis (Marie) · Gérard Depardieu (Jacques Lebovitch) · Clotilde Courau (Solange) · Sekkou Sall (Ahmed) · Florence Thomassin (Elisa)
Länge
115 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Diskussion
Jean Becker hat seit seinem Kinodebüt ("Sie nannten ihn Rocca", 1961, fd : 11 501) nur sechs Filme gedreht. Nach 12 Jahren Drehpause nimmt er in "Elisa" das Thema seines letzten Films "Ein mörderischer Sommer" (fd 24 491) wieder auf: die Rache einer jungen Frau. Nur, daß er diesmal seine Geschichte nicht in das Gewand eines Erotik-Thrillers packt, sondern die Suche nach der verlorenen Kindheit in den Mittelpunkt der Handlung stellt.

Elisa ist völlig verzweifelt. Jacques hat sie wegen eines Seitensprungs verlassen und die Eltern weisen ihr die Tür. Sie beschließt, ihrem Leben eine Ende zu machen und ihre dreijährige Tochter Marie mit in den Tod zu nehmen. Der Selbstmord gelingt. Marie aber überlebt und wächst im Heim auf, weil sie sich weigert, zu ihren ungeliebten Großeltern zu ziehen. Mit Siebzehn werden die Straßen von Paris ihr Zuhause, die sie mit ihrer gleichaltrige Freundin Solange und dem 14jährigen Farbigen Ahmed durchstreift. Mit kleinen Diebstählen und Betrügereien halten sie sich über Wasser. Marie und Solange verkaufen schon mal ihre Körper. Ihr väterlicher Freund, der Buchhändler Samuel, bietet ihnen gelegentlich Unterschlupf, und manchmal quartieren sie sich auch in der Wohnung eines exzentrischen Musikers ein. Marie ist besessen von dem Gedanken, daß ihr Vater die Familientragödie ausgelöst hat, und will sich an ihm rächen. Eine Postkarte und ein Lied, daß er für Elisa schrieb, bringen sie auf seine Spur. Auf einer kleinen Insel vor der Küste Frankreichs findet, sie ihn. Zuerst will sie ihn erschießen, beschließt dann aber, sein Herz zu gewinnen, um es zu brechen. Doch je näher sie ihn kennenlernt, schlägt der Haß in (Vater-)Liebe um.

"Außerdem ist nie einer da, der mich in den Arm nimmt", sagt Marie einmal und trifft dabei genau das Gefühl des Verloren- und Verlassenseins der heutigen, von der Gesellschaft und den Eltern weitgehend im Stich gelassenen Jugend, deren Porträt Becker mit sensiblen, manchmal auch kräftigen Pinselstrichen zeichnet. Da ist Marie, die einerseits schamlos die Schwächen ihrer Mitmenschen ausnutzt, andererseits immer besorgt ist um das Wohl ihrer "Familie". Sie bewahrt Solange vor einer Strafe im Heim, versucht aber auch, ihr klarzumachen, daß sie mehr Selbstachtung haben muß. Und ihren "kleinen" Freund Ahmed, der von einem gemeinsamen Urlaub träumt, schenkt sie zum Abschied eine Liebesnacht. Beckers einfühlsame Regie und die nie eine voyeuristische Perspektive einnehmende Kamera machen diese heikle Szene zu einer der schönsten des Films, weil sich hier auf anrührende Weise die Sehnsucht nach Liebe offenbart, die die jungen Protagonisten, jeder auf seine Weise, suchen. Die Erwachsenen kommen bis auf den gutmütigen Samuel - ausgezeichnet interpretiert von Michel Bouquet - und seinen Freundeskreis nicht so gut weg. Alte Männer, die Marie provoziert, lassen sich nur allzu bereitwillig auf das zu erwartende Abenteuer ein, ungeachtet der offensichtlichen Minderjährigkeit Maries. Auch hier bleibt die Kamera auf Distanz, denunziert nicht die Personen, deren Erbärmlichkeit sie eher mit einem traurigen Blick "belächelt". Nur die Großeltern geraten Becker zu einer etwas überzogenen Karikatur: nicht nur, daß an der Wand eine gestickte Mona Lisa hängt, Opa muß auch noch begeistert Nazi-Aufmärsche im Fernsehen angucken. Diese Überdeutlichkeiten hätte Becker sich sparen können, genauso wie seine allzu auffällige Anleihe, bei Bogdanoviehs "Paper Moon", dessen Gag mit der "Banknote" er unverhohlen kopiert.

"Elisa", das ist aber auch die Geschichte eines Liedes, das sich wie ein Leitmotiv durch Maries Leben zieht. Es erklingt in jener unheilvollen Weihnachtsnacht, als sie "zum zweitenmal geboren" wird, erinnert Marie, als es in einer Karaoke-Disco anklingt, an ihre Mission, führt sie zu einem Freund ihres Vaters, der es - eine liebevolle Hommage an den 1991 verstorbenen Komponisten Serge Gainsbourg - spielt, und schließlich auf die Insel, wo sich der Kreis schließt. Marie wird in den Armen ihres Vaters zum "drittenmal geboren". Die Entwicklung der sich langsam anbahnenden Vater-Tochter-Beziehung gestaltet Becker zu einem bewunderswerten Balanceakt zwischen Poesie, Spannung und zarter Erotik, was er natürlich auch seinen ausgezeichneten Darstellern zu verdanken hat. Gérard Depardieu betont die leisen Töne seiner zerrissenen Seele, und der Popstar Vanessa Paradis beweist, welch großartige Schauspielerin mit ihr heranreift. Es ist beeindruckend, wie sie hinter der äußerlichen Kaltschnäuzigkeit immer wieder Verwundbarkeit und Unschuld auf ihrem "reinen" Gesicht spiegeln. Zbigniew Preisners atmosphärisch dichter Soundtrack unterstützt die zwischen Romantik und Realismus pendelnde Stimmung, für die Etienne mit seiner "verwaschenen" Farbdramaturgie magisch schöne CinemaScope-Bilder findet, wie man sie lange nicht mehr im Kino sah. "Elisa" ist, trotz seiner kleinen Schwächen, großes europäisches Gefühlskino, in dem man lachen und weinen kann - und das man nicht gleich vergißt, wenn man das Kino verlassen hat.
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