Ice Aged
Dokumentarfilm | Deutschland 2024 | 114 Minuten
Regie: Alexandra Sell
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2024
- Produktionsfirma
- It Works! Medien/BR/rbb/arte
- Regie
- Alexandra Sell
- Buch
- Alexandra Sell
- Kamera
- Alexandra Sell · Sophie Krabbe · Marina Kielmann · Martin Farkas
- Musik
- Rainer Oleak
- Schnitt
- Sven Kulik · Rune Schweitzer · Alexandra Sell
- Länge
- 114 Minuten
- Kinostart
- 10.04.2025
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Dokumentarfilm über sechs ältere Menschen, die für die Weltmeisterschaft im Hobby-Eiskunstlauf trainieren.
So will man doch gelebt haben: wie im Tanz, gleitend, nicht auf festen Schienen. Frei, angetrieben nur durch die Lust an der Bewegung, an den Möglichkeiten des Raums und der eigenen Kraft. Und so geht es bald nach vorn und zurück, in Sprüngen und in Kurven, zeitweise vielleicht sogar mit einem anderen Menschen an der Seite, der einen hält und der sich halten lässt, loslässt und doch da ist. Man dreht sich, breitet die Arme aus wie im Flug, der ganze Körper ein Lächeln. Applaus. So darf es sein, bis zuletzt.
„Ice Aged“ von Alexandra Sell handelt vom Eiskunstlauf und vom Alter. Das liegt auf der Hand und entpuppt sich dennoch bald als charmante Zurückweisung einiger Kurzschlüsse im Zusammenhang mit „Best Agern“. Denn selbst wenn der Dokumentarfilm kostümierte Senioren beim Eislaufen zeigt, ist „Ice Aged“ weit mehr als nur ein Staunen machendes Gruppenporträt. Es ist vielmehr ein zartes, komisches, abgründiges Märchen voller liebenswerter und rätselhafter Figuren. Und eine Allegorie aufs Erdenleben, auf unser aller gemeinsames gefährdetes Dasein in der Gegenwart.
Vor, während & nach Corona
Mehrere Jahre lang begleitete Sell Elena, Toos, Roland und das „erste Eiskunstlauf-Trio“ Linda, Nadia und David bei ihren Vorbereitungen auf die jährlich stattfindende Weltmeisterschaft im Hobby-Eiskunstlauf in Oberstdorf. Was zunächst wie eine klassische Doku über Erfolg und Misserfolg beginnt, mit einer Vorausschau aufs große Finale, um dann zurückzuspringen in die Zeit „zwei, drei Lichtjahre zuvor“, wie es im Insert scherzhaft-ernst heißt, wird im Frühjahr 2020 jäh eingefroren. Zwei Jahre lang findet die WM wegen der Corona-Pandemie nicht statt; Eishallen werden zu Impfzentren, Menschen bringen ihren betagten Nachbarn Essen vor die Tür.
Sell dramatisiert diese Zwangspause nicht, sondern filmt stattdessen ebenso neugierig den Stillstand und die Wege, die ihre Protagonisten finden, um dennoch weiter zu trainieren. Bis es endlich wieder so weit ist. Doch statt dem „Gesetz des Wettbewerbs“ zu huldigen, von dem Sell zu Beginn noch sprach, komponiert sie zusammen mit dem Editor Sven Kulik und den Bildern der auf Kufen filmenden Mit-Kameraleute etwas ganz anderes: eine Bild und Klang gewordene dionysische Feier von Kunst, Liebe und Glück.
Die sechs Frauen und Männer, die Sell in „Ice Aged“ begleitet – insgesamt nehmen Hunderte an dem Wettbewerb teil – wollen niemandem etwas beweisen. Sie nehmen vielmehr den Faden wieder auf, den sie teilweise vor vielen Jahrzehnten fallengelassen haben. Und der sie nun wieder mit dem träumenden und hartnäckigen Kind verbindet, das sie einmal waren, und mit anderen Menschen.
Mal humorvoll, mal herzergreifend
Diese szenischen Erzählungen kommen ganz ohne Talking Heads aus. Auf privatem Archivmaterial auf VHS sieht man beispielsweise Elena als junges Mädchen beim Üben auf dem E-Piano und in einem selbstgenähten Prinzessinnenkleid. In solchen sehr sparsam gesetzten Momenten spricht die Regisseurin mittels Voiceover literarisch verdichtete Sätze, mal humorvoll mit Mut zum Kalauer („mit den Kufen scharrend“), mal herzergreifend. Es ist eine Sprache, die künstlich nicht überhöht, was zu sehen ist, sondern sich im Beobachteten einhakt und es lediglich auf eine weitere Ebene überführt. Etwa wenn Elena eines ihrer zarten, selbstgenähten Kostüme präsentiert. Nicht jede Prinzessin auf dem Eis werde zur Königin, hört man Sells warme Stimme, „aber manchmal wird Stroh zu Gold, nach einer langen Nacht“. Das ist mehr als eine gefällige Assoziation zum Rumpelstilzchen-Märchen. Dass Elenas Mutter die Eiskunstlauf-Flausen der Tochter mit dem Gürtel aus dem Leib prügelte, bis Elena die Flucht gelang, erfährt man von Elena persönlich. Statt den Menschen allzu grob auf die Pelle zu rücken, fügen Sells Sätze deren Autobiografien eine Denkfigur oder Dimension hinzu und bringen sie auf den Punkt, als seien sie selbst eine anmutige Drehung auf dem Eis. Ähnlich flankieren und bekräftigen die sanft walzerseligen Klavierkompositionen von Rainer Oleak diese Lebenschoreografien.
Wie vertraut Sell mit der Filmtauglichkeit des Eiskunstlaufs ist, hat sie bereits in ihrem Spielfilm „Die Anfängerin“ (2017) gezeigt, wo sich eine Frau jenseits der 50 aufs Eis wagt. Ihr sei es wichtig gewesen, keine „Oma-Komödie“ zu machen, sagt die Regisseurin, die zugleich für Drehbuch und Bildgestaltung verantwortlich ist. „Erwachsene Menschen werden nicht plötzlich niedlich oder putzig, nur weil sie über 60 sind.“ Das ist ein Satz, den man nicht genug loben kann. Denn man kann nämlich wie Toos auch mit fast 80 noch als Mata Hari auftreten. Als Toos sich ins Schlangenkostüm quetscht, wirkt das noch lustig. Aber da ahnt man noch nicht, wie cool und prachtvoll sie damit auf dem Eis aussehen wird.
Textilien & Texturen
„Ice Aged“ handelt durchaus auch von Textilien und Texturen. Etwa beim harten Kontrast zwischen Elenas federleichten Kostümen und ihrer schweren Arbeitskluft, in die die kaum 1,50 Meter große Ingenieurin schlüpft, wenn sie für den TÜV Anlagen überprüft. Oder in Erinnerung an jenen rotschwarzen Teppich, den die junge Toos acht Monate lang weinend auf dem Dachboden geknüpft hat, als sie in Harm verliebt war, den sie nicht heiraten durfte, weil er einer anderen Konfession angehörte. Alle ihre Tränen seien in diesem Teppich, sagt sie; jetzt habe sie keine mehr. Harm, den sie dann doch noch heiratete, fährt sie zweimal jede Woche 200 Kilometer zum Training. Er ist ihre „treueste Entourage“.
Bei Roland sind es US-Flaggen. Als Junge stapelte er in West-Berlin Konservendosen, um auf ein Paar Schlittschuhe zu sparen. Später wurde er in den USA heimisch, wo es „mehr Eissporthallen als Golfplätze“ gibt. Roland trägt fast immer ein Stück Stoff mit Stars and Stripes bei sich, als Halstuch, in den Schutzbezügen für die Kufen, zwischendurch auch als Corona-Masken. „Make the world skate again!“, steht auf seinem Hoodie. Den Spruch soll er sich selbst ausgedacht haben. Ein Romantiker, kein Nationalist.
Die Welt, so scheint es, hat solches Gleiten verlernt. Sie taumelt im Wettkampf, rasend die Fäuste geballt. Die am Ende diskret ins Bild gefasste Utopie der Völkerverständigung, wie sie ein internationaler Wettbewerb ja auch beschwört, setzt der bei allem Humor allgegenwärtigen Melancholie des Films ein Krönchen auf. Dann schaltet jemand die Lichter aus, und die Flaggen der Nationen sind in Dunkel gehüllt.