Die Banditen trauen ihren Augen nicht, als sie das schummrige Schlafabteil betreten. Die Leichen ihrer Kameraden baumeln von der Decke, die Beine abgespreizt wie Torbögen. Fassungslos starren die Männer auf dieses bizarre Gebilde, während der Zug weiter durch die Nacht rast – wissend, dass sie als nächstes an der Reihe sind.
Wen es aktuell nach handfestem Action-Kino dürstet, schaut nach Indien. In den letzten Jahren entwickelte sich die dortige Filmindustrie rasant weiter und liefert zuverlässig epischen Bombast sowie kühne Gewaltexzesse am Fließband. „RRR“, „Pathaan“, „Marco“ – die Liste an High-End-Actionkrachern reißt nicht ab. Regisseur Nikhil Nagesh Bhat sucht sich für seinen Action-Erstling „Kill“ nun einen engbegrenzten Handlungsrahmen aus, der jedoch gigantisches Gewaltpotenzial bietet: Einen Zug.
Kritische Untertöne am indischen Kastensystem
Der Elite-Soldat Amrit (Lakshya) reißt mit dem Nachtzug nach Neu-Delhi, um die arrangierte Hochzeit seiner geliebten Tulika (Tanya Maniktala) zu verhindern. Unter die Passagiere hat sich jedoch ein ganzer Trupp bewaffneter Banditen gemischt, um einen Raubüberfall durchzuziehen. Als seine Geliebte den Kriminellen in die Hände gerät, greift Amrit zum Äußersten.
Große Gefühle und keine Gnade: Die Grundzutaten für „Kill“ sind simpel. Die Liebesgeschichte zwischen Amrit und Tulika bleibt rudimentär skizziert, die schmusigen Rückblenden beim Kuchenessen zum Jahrestag reichen jedoch aus, um beim Zuschauer eine Grundbetroffenheit zu schaffen. Die beiden sollen ihr Glück finden, fernab vom indischen Kastensystem und möglichst vielversprechenden Heiratsarrangements. Bhat streut mit Tulikas Aufbegehren gegen den Vater und gegen die Konvention gesellschaftskritische Töne ein, zu einer wirklichen Emanzipation der Frauenfigur aus dem Schatten des Mannes als großer Retter reicht es jedoch nicht.
Der Liebhaber wird zur Bestie
Nachdem die emotionalen Ankerpunkte gesetzt sind, nimmt der Film mit dem Betreten des Zuges buchstäblich Fahrt auf. Die schier unendlich langen Wagons bieten zahllose Möglichkeiten für das spätere Gemetzel. Egal, ob Schlafpritsche, Trinkbrunnen oder Schiebetüren: Alles in diesem Zug kann zum Mordwerkzeug werden. Dabei liefert Lakshya als Elite-Soldat Amrit zunächst gelungenes Understatement: Er ist höflich, charmant und lässt nicht erahnen, dass er für ein tödliches Sonderkommando ausgebildet wurde.
Nachdem der Zug losgefahren ist und die mitreisenden Banditen ihren Plan in die Tat umsetzen, übt sich Amrit zunächst in Zurückhaltung und muss auch ordentlich einstecken. Doch als der Bandenchef Fani (Raghav Juyal) Tulika als Geisel nimmt und einen Schritt zu weit geht, ändert sich das. Denn nun bricht die Bestie aus Amrit heraus.
Jeder Zentimeter Raum wird ausgenutzt
Vergleichbares zu „Kill“ zu finden, fällt schwer. Anders als „Bullet Train“ verliert sich der indische Actionfilm nie in ironischer Dampfplauderei, sondern lässt die Fäuste sprechen. Für Normalsterbliche scheint es bei einer Fahrt im ICE schon unmöglich, sich im Gang mitsamt Koffer an wartenden Passagieren vorbeizuquetschen; Amrit nutzt derweil jeden freien Zentimeter, um sich durch Scharen von Banditen zu prügeln. Das schummrige Licht der Schlafwagen untermalt zusammen mit der den Figuren dicht folgenden Kamera die Actionsequenzen mit atmosphärischer Beklemmung. Kameramann Rafey Mehmood nutzt jeden Winkel des Zuges aus, um die bestmögliche Einstellung zu bekommen. Dabei folgt er der Hochhaus-Logik von „The Raid“, jedoch in die Horizontale verlagert: Mit jedem Wagon werden die Gegner gefährlicher – bis hin zum Endkampf mit Banditenboss Fani.
Was den Gewaltgrad angeht, ist „Kill“ nichts für Zartbesaitete. Ohne Unterlass prasseln Amrits stahlharte Fäuste auf Kiefer, Knochen und Augen ein. Nikhil Nagesh Bhat zelebriert die Action in ihrer härtesten Gangart und lässt keine Gelegenheit für eine Blutfontäne liegen. Lakshya sorgt mit seiner Körperpräsenz dafür, dass ihm jederzeit der ausdauernde Berserker abzunehmen ist. Durch die schnellen Schnitte fällt die CGI-Unterstützung etwa bei zusätzlichem Blut kaum auf. Lediglich bei freistehenden Effekten, etwa wenn ein Bandit in Flammen aufgeht, werden die Limitationen des engen Zug-Settings deutlich, was jedoch nur selten vorkommt. Ansonsten kennt „Kill“ bei der Umsetzung seiner Kampfaction keine Grenzen.