Misericordia
Drama | Frankreich/Spanien/Portugal 2024 | 102 Minuten
Regie: Alain Guiraudie
Filmdaten
- Originaltitel
- MISÉRICORDE
- Produktionsland
- Frankreich/Spanien/Portugal
- Produktionsjahr
- 2024
- Produktionsfirma
- CG Cinéma/Scala Films/Andergraun Films/Rosa Filmes/Arte France
- Regie
- Alain Guiraudie
- Buch
- Alain Guiraudie
- Kamera
- Claire Mathon
- Musik
- Marc Verdaguer
- Schnitt
- Jean-Christophe Hym
- Darsteller
- Félix Kysyl (Jérémie Pastor) · Catherine Frot (Martine Rigal) · Jean-Baptiste Durand (Vincent Rigal) · Jacques Develay (Abbé Philippe Griseul) · David Ayala (Walter Bonchamp)
- Länge
- 102 Minuten
- Kinostart
- 06.03.2025
- Fsk
- ab 16; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Drama | Komödie | Literaturverfilmung
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Ein 31-Jähriger kehrt zur Beerdigung eines alten Freundes in sein Heimatdorf zurück. Dort ist die Stimmung angespannt, und schließlich ereignet sich ein Verbrechen.
Als Jérémie (Félix Kysyl), der vor zehn Jahren nach Toulouse gezogen ist, in sein Heimatdorf zurückkehrt, möchte er eigentlich nur kurz bleiben. Grund für den Besuch des jungen Mannes mit dem weichen, verschlagenen Gesicht ist die Beerdigung des hiesigen Bäckermeisters. Der war nicht nur Jérémies Arbeitgeber, sondern auch sein heimliches Objekt der Begierde. Beim abendlichen Glas Wein bietet die ihm auf mütterliche Art wohlgesonnene Witwe Martine (Catherine Frot) schließlich an, noch eine Nacht zu bleiben. Es werden noch viele weitere folgen.
„Misericordia“ beginnt mit einer nicht ganz geheuren Situation, in der man sich als Zuschauer erstmal zurechtfinden muss. Die Vorgeschichten der Figuren klammert der Film dabei fast komplett aus. In welchem Verhältnis sie zueinanderstehen, was ihre Beweggründe sind und was überhaupt alles in der Vergangenheit geschehen ist, offenbart sich zögerlich und lückenhaft über karge Gespräche, in denen immer ein wenig um den heißen Brei herumgeredet wird.
Etwas ist faul
Wenig erfreut über die Anwesenheit des Heimkehrers ist Martines rüpelhafter Sohn Vincent (Jean-Baptiste Durand), wobei auch hier nicht ganz klar ist, warum. Er behauptet, Jérémie würde seine Mutter manipulieren, hätte vielleicht sogar sexuelle Interessen, aber, wie so oft im Film, hat man den Eindruck, da gäbe es noch etwas Unausgesprochenes. Angeblich freundschaftlich spielerisch fordert Vincent den Heimkehrer immer wieder zu Schaukämpfen heraus, in denen eine unterschwellige Aggression aus ihm herausbricht. Auch die kaum hörbare, die Wahrnehmung jedoch deutlich ins Unheimliche lenkende Musik legt nahe, dass hier etwas faul ist.
Unter den Dorfbewohnern gibt es auch noch Walter (David Ayala); einen Freund von früher, der Jérémie aus ungeklärten Gründen abweisend begegnet. Wenn die beiden gemeinsam Pastis trinken, spielt Regisseur Alain Guiraudie, wie auch in vielen anderen Momenten, mit der Mehrdeutigkeit der Situation. Ständig wirft er uns kleine Brocken an Information hin, um die Beziehung einzuordnen, jeweils aber nur so viel, dass mehrere Interpretationen möglich bleiben. Die peinlich berührten Blicke, das gehemmte Schweigen oder auch der Augenblick, als Walter sich wegen der angeblichen Hitze plötzlich seiner Jacke entledigt, laden die Szene mit einer diffusen erotischen Spannung auf. Und dann taucht im Film auch immer wieder der Dorfpfarrer (Jacques Develay) auf, der Jérémie stets so durchdringend ansieht, als hätte der etwas zu verbergen.
Ein Dorf wie eine Geisterstadt
Guiraudie siedelt seinen zunächst recht undurchsichtigen Plot in der herbstlich verwunschenen Landschaft des südöstlichen französischen Départements Ardèche an. Das Dorf wirkt wie eine Geisterstadt, in der lediglich eine Handvoll Einheimischer geblieben ist. Immer wieder zieht es den Regisseur in die raue, von der Moderne weitgehend links liegen gelassenene französische Provinz und zu ihren eigensinnig markanten, sich gängigen Kino-Schönheitsidealen entziehenden Bewohnern.
So überschaubar wie das Figurenensemble in „Misericordia“ sind auch die Schauplätze: das Haus des Verstorbenen, eine Waldlichtung, in der man gut Pilze suchen kann, der Bauernhof Walters sowie eine kaum befahrene Landstraße, die diese Orte verbindet. Situationen wiederholen sich hier scheinbar und führen doch jedes Mal ganz woanders hin. Bei Vincents nächtlichen Besuchen in Jérémies Schlafzimmer ist etwa sichtbar im Hintergrund eine Digitaluhr platziert, durch die beim ersten Mal eine Routine etabliert wird, von der Guiraudie anschließend spielerisch abweicht.
Menschliche Nähe als Tauschwert
Wie aus dem Nichts ereignet sich dann ein Verbrechen. Für den Film dient es als Anlass, um die Beziehungen zwischen den Figuren zu verdichten. „Barmherzigkeit“ lautet der Titel des Films, und große Kreuze, die in der Landschaft prangen, unterstreichen dieses christliche Motiv noch. Mehr jedoch als für selbstloses Mitgefühl interessiert sich „Misericordia“ dafür, wie jeder einzelne in einer Grauzone aus Zufall und Kalkül seine Sehnsucht stillen will. Die Erzählung kreist dabei um unerfülltes Begehren und menschliche Nähe als Tauschwert. Nachdem der Film wie ein Krimi begonnen hat, kippt er nun immer wieder ins rustikal Komische.
War Jérémie zunächst noch von seiner eigenen Leidenschaft angetrieben, wird er nun zunehmend vom Begehren der anderen gelenkt. Er füllt eine Lücke an diesem verlassenen Ort, und durch die Schuld, die er auf sich geladen hat, macht er sich zum leichten Opfer. Er wird hier geliebt und gebraucht, doch die Beziehungen zu den Dorfbewohnern sind zumindest auch unterschwellig von Abgängigkeit oder gar Erpressung geprägt. Es bleibt ambivalent. Der Film weiß, dass er nicht in die Köpfe seiner Figuren schauen kann. Ein Running Gag dreht sich darum, dass verschiedene Leute versuchen, Jérémie im Schlaf ein Geständnis zu entlocken. Die eigenen Träume bleiben jedoch der letzte Rückzugsort.