Nicht gesellschaftsfähig - Alltag mit psychischen Belastungen

Dokumentarfilm | Deutschland 2023 | 100 Minuten

Regie: Sandra Strauß

Fünf Menschen berichten ausführlich über ihre psychischen Belastungen. Sie erzählen von Depressionen, Ängsten, Essstörungen, dem Borderline-Syndrom und Suizid-Prävention. Darüber entsteht ein sehr persönliches Bild von psychischen Beeinträchtigungen und wie die Menschen mit ihnen zu kämpfen haben. Dramaturgisch schlicht und mit eher störenden Animationen versehen, trägt der Film durch die redegewandten Betroffenen, die ihre Probleme plastisch vermitteln können, dennoch zu Entstigmatisierung und Aufklärung bei. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Glücklicher Montag
Regie
Sandra Strauß · Schwarwel
Buch
Sandra Strauß
Kamera
Schwarwel
Musik
Schwarwel
Schnitt
Schwarwel
Länge
100 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm

Dokumentarfilm über Menschen mit psychischen Belastungen, der Einblicke in ihr Leben mit Depression, Angst- oder Essstörung gewährt.

Diskussion

„Ich tauche auf den Meeresgrund und spüre Wasser auf mir. Alles wird viel langsamer und gefiltert.“ So beschreibt Zoë Beck das Gefühl, wenn ihre Krankheit sie wieder im Griff hat. Seit etwa 40 Jahren leidet sie an Depressionen; dabei ist die Schriftstellerin erst 48 Jahre alt. Die rothaarige Frau erzählt in dem Dokumentarfilm „Nicht gesellschaftsfähig“ als eine von fünf Protagonist:innen von ihrem psychischen Leiden. Sie sitzt dabei auf einem geblümten Sofa vor einem graffitiähnlichen Gemälde. Es habe ihr geholfen, als sie die Diagnose „Depression“ erhalten habe, denn im Anschluss daran ist ihr klarer gewesen, warum sie Dinge anders wahrnehme und anders funktioniere als die meisten. Verhaltenstherapie und Medikamente helfen ihr, mit ihrer psychischen Erkrankung umzugehen.

Animationen ergänzen die Worte

Der Dokumentarfilm von Sandra Strauß und Schwarwel hört den Protagonist:innen sehr aufmerksam zu. Nur der Schnitt unterbricht und strukturiert die Ausführungen vor der Kamera. Ergänzt werden die Worte durch Animationselemente, die ins Bild eingefügt wurden. Wenn Zoë Beck ihre Nöte mit einem Dampfkessel vergleicht, taucht ein solcher als Zeichentrickelement neben ihr auf. Dazu ertönen pfeifende, knallende oder dumpfe Geräusche, die das Gesagte aber weniger unterstreichen, als vielmehr störend wirken.

Auch ist dem Film eine Warnung vorangestellt, dass die beschriebenen psychischen Zustände oder Notlagen bei sensiblen Zuschauern negative Gefühle oder gar Ängste auslösen können. Die geräuschvollen Animationen sind dabei durchaus geeignet, solche Ängste eher zu verstärken als zu zerstreuen. Auch nimmt man durch diese Hervorhebungen die Aussagen der Protagonist:innen nicht ganz so ernst, wie es ja eigentlich dem Anliegen des Films entspricht. Warum also Worte, die es ohnehin in sich haben, durch spezielle Effekte aufpeppen?

Die Ausführungen der anderen Beteiligten sind ähnlich intensiv. Der Musiker Nicholas Müller, Mitglied der Band Jupiter Jones, leidet an einer Angststörung. Auf einer schwarzen Bühne berichtet er, dass er sich massiv davor fürchte, jederzeit sterben zu können. Ausgelöst wurde seine Krankheit unter anderem durch den Tod seiner Mutter, die er mit Mitte zwanzig verloren hat. Panikattacken und ständige Schmerzen, die sein Körper durch den Dauerstress produziert, machten sein Leben zur Hölle. Der volltätowierte Mann erzählt von Klinikaufenthalten und Medikamentenabhängigkeit, aber auch davon, wie ihm Therapien geholfen haben.

Sprachfähige Protagonisten

Allen Beteiligten im Film ist gemeinsam, wie gut sie über ihre psychischen Leiden sprechen können. Dabei wirken sie recht sachlich, können ihre komplizierten Gefühle und Leiden aber sehr plastisch vermitteln. Das gilt auch für Anna Feuerbach, die mit einer Essstörung lebt. Lange litt sie an einer atypischen Anorexie, übersprang Mahlzeiten und hatte generell Angst vor dem Essen. Darunter litt auch ihr Sozialleben. Sie schwänzte gesellige Treffen, um potenzielles Essen zu vermeiden. Stationäre Behandlungen und Ärzte halfen ihr nicht; stattdessen linderten sich ihre Beschwerden erst durch die Unterstützung eines Hilfswerks. Mittlerweile hat sie sich selbst weitgehend therapiert und macht als Bloggerin auf Essstörungen aufmerksam.

„Nicht gesellschaftsfähig“ funktioniert als Langfilm, kann aber auch in fünf Kurzfilme aufgeteilt werden. Das hat Vor- und Nachteile. Zwar hört man den fünf Protagonist:innen aufmerksam und am Stück zu und nimmt sich dadurch Zeit für sie. Außerdem kann man die einzelnen Kapitel aufsplitten – womöglich für Kurzfilmfestivals. Dafür fällt die Dramaturgie recht schlicht aus. Durch einen Schnitt, der die Beteiligten aufeinander reagieren ließe, hätte man Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeiten können.

Die Gefühle nicht im Zaum halten

Die vierte Protagonistin Anne Martin – sie ist Sängerin, Hochzeitsrednerin und Moderatorin – leidet am Borderline-Syndrom. Sie redet in einem Park vor einer Graffiti-Wand über ihre Gemütsschwankungen. Kleine Vorfälle können bei ihr Wutanfälle auslösen; sie hat depressive und manische Phasen, kennt keine Graunuancen, lässt sich von übermächtigen Emotionen bestimmen und verletzt sich auch selbst. Lebhaft und doch reflektiert erzählt sie von zerbrochenen Freundschaften, dem Zwang, sich für andere Menschen zu verstellen, und dem ständigen inneren Druck, den sie verspürt und der irgendwann zu Gefühlsausbrüchen führt.

Als einziger Protagonist, der nicht von psychischen Belastungen betroffen ist, kommt der ehemalige MTV-Moderator Markus Kavka zu Wort. Seit einer seiner engen Freunde sich selbst das Leben genommen hat, engagiert er sich in der Suizid-Prävention. Vor einer silbernen Graffiti-Wand schildert er den Werdegang des Freundes, der seine Tat ankündigte, und die Hilflosigkeit seines Umfelds, mit seinen Depressionen und seiner Drogensucht umzugehen. Die Schuldgefühle, aber auch die Wut, die Kavka nach dem Selbstmord plagten, ließen ihn aktiv werden. Er hat sich Wissen über Suizidgefährdete angeeignet, ist aufmerksamer geworden und unterstützt den Verein „Freunde fürs Leben“. Er möchte auch, dass sich mehr Prominente für sein Anliegen einsetzen und damit die Reichweite des Vereins erhöhen. Womöglich ist Kavkas Verständnis von Prävention etwas zu naiv oder auch bevormundend, doch sein Engagement nimmt man ihm ab.

Sich in Menschen einfühlen

Dass Menschen, die unter psychischen Belastungen leiden, mit wohlmeinenden Relativierungen nicht geholfen ist, unterstreichen vor allem Beck und Kavka. Sprüche wie „Anderen geht es noch schlechter“ oder „Mach Sport!“ helfen (manisch-)depressiven oder angstgestörten Menschen wenig. Das Einzige, was ihre Situation verändert, ist der Wille, sich in betroffene Personen einzufühlen und ihnen zuzuhören. Dafür leistet „Nicht gesellschaftsfähig“ eine wichtige Aufklärungsarbeit.

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