Drama | USA 2024 | (sieben Folgen) Minuten

Regie: Alfonso Cuarón

Eine erfolgreiche Journalistin wird Opfer eines Rachefeldzugs, bei dem ein im Selbstverlag erschienenes Buch eine zentrale Rolle spielt. Das handelt von einem traumatischen Ereignis in der Vergangenheit der Frau, bei dem während eines Italienurlaubs ein junger Mann ertrunken ist. Als die Enthüllungen in ihrer Familie und ihrem Umfeld die Runde machen, drohen ihre Reputation und ihre Beziehungen Schaden zu nehmen. Urheber des Debakels ist ein alter, von schweren Verlusten gezeichneter Mann, der einen tiefen Groll gegen die Journalistin hegt. Die Romanverfilmung entwirft in Gestalt einer siebenteiligen Serie auf zwei Zeitebenen und aus unterschiedlichen Perspektiven eine doppelbödige Rachetragödie, deren Spannung sich aus der Ungewissheit speist, wo in diesem schillernden Erzählteppich die Wahrheit verborgen liegt. Gegen Ende verdichtet sich die Serie zu einem Thriller, dessen Auflösung die zuvor konstruierte Komplexität zwar etwas einebnet, der aber dank hervorragender Darsteller bis zum Schluss spannend bleibt. Im Kern handelt sich bei der Geschichte um ein Plädoyer gegen vorschnelle Urteile. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
DISCLAIMER
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2024
Produktionsfirma
Anonymous Content/Esperanto Filmoj
Regie
Alfonso Cuarón
Buch
Alfonso Cuarón
Kamera
Emmanuel Lubezki · Bruno Delbonnel
Schnitt
Alfonso Cuarón
Darsteller
Cate Blanchett (Catherine Ravenscroft) · Kevin Kline (Stephen Brigstocke) · Sacha Baron Cohen (Robert) · Kodi Smit-McPhee (Nicholas) · Louis Partridge (Jonathan)
Länge
(sieben Folgen) Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung | Serie | Thriller
Externe Links
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Alfonso Cuaróns Romanverfilmung um eine Journalistin, die wegen 20 Jahre zurückliegender Ereignisse ins Visier eines sinistren Racheplans gerät.

Diskussion

Vorsicht vor Erzählungen und ihrer Form! Ihre Macht kann Rezipienten der Wahrheit näherbringen, aber sie können auch Waffen mit großer manipulativer Wirkung sein. So heißt es in einer frühen Szene von Alfonso Cuaróns erstem Serienprojekt. Die Stimme aus dem Off, die diese Warnung ausspricht, entpuppt sich als die einer Laudatorin, die eine der Hauptfiguren, eine Journalistin namens Catherine Ravenscroft (Cate Blanchett), angesichts einer Preisverleihung der britischen Royal Television Society feiert. Catherine hätte in ihrer Karriere immer wieder durch Erzählgewebe „geschnitten“, „die uns von verborgenen Wahrheiten abhalten“, um darunter einige der schwierigsten gegenwärtigen Probleme zum Vorschein zu bringen. Ein „Beacon of Truth“, ein Leuchtfeuer der Wahrheit, sei sie. Der Saal klatscht, Catherine, eine strahlende Erscheinung im edlen schwarzen Kostüm, erhebt sich, um auf der Bühne ihre Trophäe abzuholen – eine Frau auf dem Zenit ihrer Karriere. Doch die Serienzuschauer werden sehr bald nicht mehr wissen, inwieweit sie dem Porträt, dass ihnen da durch die Rednerin von Catherine serviert worden ist, trauen können.

Das Drama einer späten Rache

Der Handlungsstrang um die Erfolgsjournalistin wird in „Disclaimer“ verwoben mit zwei anderen Geschichten, die sich zunächst nur schwer untereinander in Beziehung setzen lassen. Ganz am Anfang der ersten Episode beobachtete die Kamera indiskret den fröhlichen Schlafwagen-Sex eines jungen Briten mit seiner Freundin; das Urlaubsziel der beiden „Love Birds“ wird, wie man bald darauf erfahren wird, Venedig sein. Und die Szene um Catherines Preisverleihung wird abrupt beendet durch die graustichige Großaufnahme eines alten Mannes (Kevin Kline), die die Zuschauer in die traurige Geschichte eines gewissen Stephen Brigstocke hineinzieht, dessen Leben durch zwei Todesfälle jeden Glanz verloren hat. Früher war Stephen ein beliebter Lehrer; mittlerweile ist er ein resignierter Schatten seiner selbst und geistert durch sein kleines Londoner Vorort-Reihenhaus, als würde er mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart leben.

Womit Alfonso Cuarón die wichtigsten Akteure seiner Psychothriller-Geschichte, die auf dem gleichnamigen Roman von Renée Knight beruht, beisammenhat. Catherine und Stephen werden die Antipoden einer Rache-Geschichte werden, die sich an etwas entzündet, was mit dem jungen Briten auf Italien-Reise zu tun hat, mit dem die Serie anfängt. Rund 20 Jahre in der Vergangenheit spielend, wird diese Reise in eine Tragödie münden, die dem trauernden Stephen auch nach Jahrzehnten keine Ruhe lässt. Und als er in den Hinterlassenschaften seiner Frau (Lesley Manville), die vor Jahren dem Krebs zum Opfer fiel, einen für ihn höchst aufschlussreichen Fund in Form eines Romanmanuskripts („The Perfect Stranger“) und einiger Fotos macht, möchte er, dass das Vergangene auch Catherine keine Ruhe lässt, sondern ihr Vorzeige-Leben zum Einsturz bringt.

Der Text, den er alsbald mit Hilfe eines Freundes als Kurzroman im Selbstverlag herausbringen wird, scheint Aufschlüsse zu enthalten über einen Unfall seines Sohnes Jonathan (Louis Partridge), der einst während eines Italienurlaubs ertrank, als er versuchte, ein Kind zu retten. Catherine habe, so der Text, dabei eine unrühmliche Rolle gespielt, und die soll nun bloßgestellt werden.

Erzählungen, denen nicht zu trauen ist

Die Kameramänner Emmanuel Lubezki und Bruno Delbonnel setzen das Ganze in Bilder, in denen die Erzählgegenwart sowohl um Catherine als auch um Stephen eine gewisse Kühle ausstrahlt. Bei Catherine, die mit ihrem Ehemann Robert (Sacha Baron Cohen) in einem noblen Stadthaus wohnt, ist es die elegante Kühle eines selbstsicheren Upper-Class-Lifestyles, bei Stephen, der seit dem Tod seiner Frau offensichtlich nichts mehr an seinem Heim getan hat, ist es die staubige Kühle langer Vernachlässigung. Der Handlungsstrang, der die Geschichte jener Italienreise aufrollt, erstrahlt dagegen in verführerisch-warmen Sommertönen. Zu verführerisch: Man weiß von Anfang an nicht recht, wie man diese Vorgeschichte einzuschätzen hat, wessen Erzählperspektive es eigentlich sein soll, aus der man die Ereignisse zu sehen bekommt. Sind es Rückblenden auf tatsächlich Geschehenes, illustrieren sie das, was in dem Manuskript „The Perfect Stranger“ festgehalten ist, sind es Erinnerungen?

Man möchte den sinnlich-sonnigen Bildern schon wegen ihrer Schönheit trauen, vor allem da, wo sie noch um glückliche Urlaubserlebnisse kreisen, ahnt aber früh, dass das ein Fehler wäre. Und auch in der Erzählgegenwart spielt Cuarón mit der Unzuverlässigkeit von Erzählerperspektiven: Zwar scheinen die Bilder hier weniger trügerisch, werden aber unterlegt mit Voice-over-Stimmen, bei denen man nicht sicher ist, wessen Interpretationen von dem, was die Figuren da gerade erleben, fühlen und denken, sie uns eigentlich präsentieren.

Die Unsicherheit schafft Spannung

In den ersten der insgesamt sieben Folgen ist es nicht zuletzt die daraus entstehende Unsicherheit, die für Spannung sorgt, während sich allmählich herauskristallisiert, dass Stephen mit Hilfe des in Buchform gebrachten „Perfect Stranger“-Texts und der dazugehörigen Fotos einen sinistren Feldzug gegen Catherine in Bewegung setzt, indem er beginnt, den Text strategisch in ihrem Umfeld, bei ihrem Mann und ihrem erwachsenen Sohn sowie bei Journalisten-Kollegen, in Umlauf zu bringen. Danach verdichtet sich das Ganze immer mehr zum Thriller-Szenario, das sich bis zum atemlosen Finale zur klassischen „Last Minute Rescue“ steigern wird. Dass ausgerechnet das alte Medium Buch dabei zum Instrument werden kann, um einen versierten Medienprofi wie Catherine zum Straucheln zu bringen, ist nur eine der sinistren Volten, die Cuarón einbaut. Obwohl er vom Fernsehen nichts verstehe, wie der Filmemacher anlässlich der Premiere der Serie beim Filmfestival in Venedig erklärte, arbeitet er höchst geschickt mit den Spannungsbögen von Episode zu Episode.

Das gezielte Verunsichern der Zuschauer ist dabei nicht nur ein spannungsdramaturgischer Kniff, sondern hat inhaltlich Methode und ist eng verbunden mit der Moral, auf die die Serie hinausläuft. Wenn eine Geschichte ihre Wirkkraft entfalten soll, braucht sie unabhängig vom Medium, in dem erzählt wird, ein Publikum, das bereit ist, sich die in ihr vermittelten Haltungen und Wertungen zu eigen zu machen – und diese Komplizenschaft ist eine zwiespältige Sache. In „Disclaimer“ wird Catherine durch das, was Stephen über sie verbreitet, in ihren Grundfesten erschüttert werden. Und das liegt nicht nur an dem Material selbst, sondern auch daran, dass es in ihrem Umfeld auf offene Ohren/Augen trifft, die nur zu gerne bereit sind, das Podest wanken zu sehen, auf dem die einmal neckisch als „Saint Catherine“ bezeichnete Figur am Anfang noch steht. Während von den Seriencharakteren also der Stab über Catherine gebrochen wird, werden die Zuschauer lange in Zweifel gehalten, wie sie sie beurteilen sollen: „Disclaimer“ ist ein Plädoyer dafür, Narrative zu hinterfragen, mit Urteilen zurückhaltend zu sein und lieber auf das zu setzen, was man auf Englisch so schön den „Benefit of the doubt“ nennt.

Die Raffinesse wird etwas eingeebnet, die Spannung nicht

Dass die Serie in der letzten Folge dann schließlich doch alle Zweifel ausräumt und die zuvor konstruierte Ungewissheit zugunsten der Eindeutigkeit aus dem Weg räumt, nimmt ihr etwas von ihrer Raffinesse, nicht aber von der Spannung. Für die sorgen schon die durchweg großartig gespielten Figuren. Wobei nicht nur Cate Blanchett glänzt, die hier nach „Tár“ einmal mehr mit unter die Haut gehender Intensität eine Erfolgsfrau spielt, die vor einem tiefen Fall steht, sondern auch der Rest des Ensembles. Sowohl Kevin Kline als auch in Rückblenden Lesley Manville glänzen als ebenso anrührende wie erschreckende Figuren, die die Trauer so sehr zerschleißt und abschleift, bis darunter ein höchst beunruhigender, eisenharter Kern zum Vorschein kommt. Interessant sind aber nicht zuletzt auch die Charaktere von Sacha Baron Cohen und Kodi Smit-McPhee als Vater-Sohn-Gespann im Schatten einer Erfolgsfrau. An ihnen und den Entwicklungen, die sie im Lauf der Serie durchmachen, kristallisiert sich besonders klar heraus, auf was die Serie letztendlich abzielt: Nicht nur auf eine Abrechnung mit der menschlichen Neigung im Allgemeinen, sich vorschnell von stimmig klingenden Geschichten vereinnahmen zu lassen und Urteile zu fällen. Sondern speziell auf eine Abrechnung mit der Bereitschaft, Urteile über Frauen aufgrund misogyner Bodensätze zu fällen, die auch nach Jahrzehnten der Emanzipation immer noch in den Köpfen kursieren.

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