Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt

Komödie | Rumänien/Frankreich 2023 | 163 Minuten

Regie: Radu Jude

Eine überarbeitete und unterbezahlte rumänische Produktionsassistentin soll im Auftrag eines österreichischen Unternehmens ein Video zur Arbeitssicherheit vorbereiten und darum mit Menschen sprechen, die auf der Arbeit einen schweren Unfall erlitten haben. Während sie sich im Auto durch die Staus von Bukarest quält, erfindet sie als Alter Ego eine prollige Kunstfigur, mit der sie auf sozialen Medien obszöne und chauvinistische Sprüche ablässt. Dazwischengeschnitten sind farbige Bilder aus dem rumänischen Spielfilm „Taxifahrer Angela“ von 1981, in dem ebenfalls eine Frau um ihr tägliches Überleben kämpft. Ein ebenso komisches wie intelligentes, mutiges und freches Filmpuzzle über die moderne Arbeitswelt und Ausbeutung, über den Tod und die Manipulation der Wahrheit. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
NU ASTEPTA PREA MULT DE LA SFÂRSITUL LUMII
Produktionsland
Rumänien/Frankreich
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
4 Proof Film/Paul Thiltges Distribution/Les Films d'Ici
Regie
Radu Jude
Buch
Radu Jude
Kamera
Marius Panduru
Schnitt
Catalin Cristutiu
Darsteller
Ilinca Manolache (Angela Raducani) · Nina Hoss (Doris Goethe) · Dorina Lazar (Angela Coman) · Ovidiu Pîrșan (Ovidiu Pîrsan) · Katia Pascariu (Ovidius Frau)
Länge
163 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Komödie
Externe Links
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Über die Tücken der modernen Arbeitswelt: Eine gestresste Produktionsassistentin muss durch ganz Bukarest fahren, um Interviews für ein Video zur Sicherheit am Arbeitsplatz zu drehen.

Diskussion

Es beginnt in grobkörnigen Schwarz-weiß-Bildern. Als Angela (Ilinca Manolache), eine überarbeitete und unterbezahlte Produktionsassistentin, frühmorgens, vom Rasseln des Weckers aufgeschreckt, splitterfasernackt aufsteht, hat sie nicht einmal sechs Stunden geschlafen. Schnell anziehen und einen Kaffee trinken, dann geht es auch schon los, mit dem Fiat quer durch den stockenden Berufsverkehr von Bukarest, die Musik des Autoradios laut aufgedreht, damit sie nicht gleich wieder einschläft. Die Fahrerin von rechts im Profil, fluchend, kaugummikauend oder telefonierend – das ist ein Bild, zu dem der Film im Folgenden häufig zurückkehren wird.

Heute soll Angela für ein Casting mit Menschen sprechen, die auf der Arbeit einen schweren Unfall erlitten haben. Ein großes österreichisches Unternehmen hat nämlich ein Video über „Sicherheit am Arbeitsplatz“ in Auftrag gegeben. Angela fährt von einem Opfer zum nächsten – ein düsteres Kaleidoskop der Armen und Entrechteten, die sich in der Arbeitswelt nicht behaupten können. Als Alter Ego erfindet Angela die prollige Kunstfigur Bobitză, einen Kerl, den sie via Handy auf Instagram, androgyn verfremdet, gegen Gott und die Welt mit obszönen und chauvinistischen Sprüchen zu Felde ziehen lässt. Ein Frauenfeind, der Putin verehrt und so zur irritierendsten Figur des Films wird. Der Kontrast zur eigentlichen Handlung könnte nicht größer sein.

Im Dialog mit einem Film aus den 1980er-Jahren

Dazwischen geschnitten sind farbige Bilder aus dem rumänischen Spielfilm „Taxifahrer Angela“, den Lucian Bratu 1981, also noch unter der Herrschaft Ceausescus, inszenierte und der einst im DDR-Fernsehen lief. Angelas Namensvetterin kämpft darin ums ganz alltägliche Überleben, so wie sie selbst heute ums Überleben kämpft. So ganz nebenbei wird die Wandlung der rumänischen Gesellschaft und die Stellung der Frau deutlich. Wie der alte und der neue Film sich ineinander verschränken und schließlich sogar aufeinandertreffen – das ist von dem rumänischen Regisseur Radu Jude ungemein clever arrangiert.

Damit nicht genug: Es geht Jude auch um die Filmgeschichte; die Gebrüder Lumière werden ebenso erwähnt wie Charlie Chaplin und Buster Keaton. Plötzlich erzählt auf einem Filmset Uwe Boll, Deutschlands fleißigster Trash-Filmer, wie er missgünstige Filmkritiker im Boxring verprügelte. Ein kleiner Spaß nur und trotzdem sehr beredt, weil man um die große Verletzung, die eine schlechte Kritik bei Filmschaffenden hervorrufen kann, weiß. Einmal zeigt Jude in einer minutenlangen Szenenfolge zahllose Kreuze am Straßenrand, die an Autounfallopfer erinnern. Auch dies eine beiläufige Beobachtung, die über sich hinausweist: Tödliche Gefahren lauern überall.

Neokapitalismus im Burn-out

Doch das Hauptaugenmerk Judes gilt der unmenschlichen Arbeitswelt, wo der Idealismus des Einzelnen ausgenutzt wird, Überstunden zur Regel werden und es für Erschöpfung, Fehler gar, kein Verständnis gibt. Zum Gesicht dieses Neoliberalismus wird Nina Hoss, die die Marketing-Chefin der österreichischen Firma spielt. Bei einer Videokonferenz macht sie klare und zynische Ansagen, Detailfragen interessieren sie nicht, Hauptsache, die Protagonisten des Videofilms sehen nicht zu deprimierend aus. Um das Wohl der Unfallopfer geht es hier schon lange nicht mehr, und dann lässt der Regisseur seinen Film mit einer einzigen halbstündigen Einstellung enden, die einer Tour de force gleichkommt. Ein Ende, das man sich erst mal trauen muss. So ist ein komisches und intelligentes Filmpuzzle über die moderne Arbeitswelt und Ausbeutung, über den Tod und die Manipulation der Wahrheit entstanden. Der neue Film von Radu Jude: ebenso mutig wie frech, ebenso verwegen wie erkenntnisreich.

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