Das Schweigen meines Vaters

Dokumentarfilm | Niederlande 2021 | 93 Minuten

Regie: Aliona Van der Horst

Eine in den Niederlanden lebende Schriftstellerin spürt ihrem aus Moskau stammenden Vater nach. Dieser konnte ihr aufgrund seiner traumatischen Erlebnisse in deutscher Kriegsgefangenschaft und im sowjetischen Gulag nie die Aufmerksamkeit und Liebe schenken, die sie sich gewünscht hätte. Mit ihrer Schwester macht sie sich nach Russland auf, um Stationen aus dem Leben ihres Vaters zu erkunden und sich ihm dadurch anzunähern. Der Dokumentarfilm geht mitunter wenig sorgfältig mit Archivmaterialien um; dennoch berührt das Schicksal der Familie und insbesondere des musisch veranlagten Vaters, den die Folgen von Krieg und Diktatur um seine ganze Jugend brachten. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
TURN YOUR BODY TO THE SUN
Produktionsland
Niederlande
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Docmakers/NTR/SWR
Regie
Aliona Van der Horst
Buch
Aliona Van der Horst
Kamera
Rogier Timmermans
Musik
Anton Silajew
Schnitt
Gys Zevenbergen
Länge
93 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Doku über die Suche einer Schriftstellerin nach den Spuren ihres Vaters, der in den Gulag verbannt wurde, weil er als Rotarmist im Zweiten Weltkrieg in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten war.

Diskussion

Sana Valiulina steht vor einer Leinwand, über die Aufnahmen von sowjetischen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg flimmern, und benutzt ihre Hand als Projektionsfläche, um die Bilder abzufangen. Sie forstet die Archivaufnahmen nach ihrem Vater durch und will ihn so förmlich erhaschen. Sandar Valiulin, ein aus Moskau stammender Tatar, geriet während des Zweiten Weltkriegs als sehr junger Mann in deutsche Kriegsgefangenschaft und wurde nach dem Krieg wegen Vaterlandsverrats in einen sibirischen Gulag gesperrt. Über beide schmerzliche Perioden seines Lebens verlor er gegenüber seiner Familie nie ein Wort. Der Vater schwieg, doch sein verheimlichtes Trauma hinterließ bei seinen Töchtern tiefe Spuren.

Begleitet von der wachsamen Kamera der Regisseurin Aliona van der Horst begeben sich Valiulina, die seit 30 Jahren in den Niederlanden lebt, und ihre Schwester auf eine Zugreise durch Russland zum Standort des ehemaligen Gulags. Unterwegs lesen die beiden Frauen die Tagebücher und Briefe, die ihr Vater in Gefangenschaft schrieb.

Fragen an den Verstorbenen

Sana Valiulina fungiert im Film auch als Erzählerin, reflektiert Vergangenes, versucht sich in ihren Vater hineinzuversetzen und wendet sich mit Fragen an den Verstorbenen, die sie nie gewagt hätte, ihm zu Lebzeiten zu stellen. Allerdings hört man ihre Stimme nicht; sie wird von einer deutschen Sprecherin übertönt. An eine Begebenheit erinnert sich Valiulina dabei besonders. Bei einem Spaziergang mit ihrem Vater konnte sie als Kind mit ihm nicht Schritt halten. Sie hatte panische Angst, dass er sie allein zurücklassen würde, doch er nahm das Geschehen kaum wahr, befand sich in Gedanken ganz woanders. Auch in anderen Situationen kapselte er sich ab; seine Familie hatte darauf Rücksicht zu nehmen und durfte ihn am Schreibtisch, seinem Rückzugsort, nicht stören.

Am 9. Mai, dem Tag des Sieges in der Sowjetunion, an dem Paraden und feierliche Demonstrationen mit Veteranen abgehalten wurden, litt Valiulin besonders. Denn in seinem Land galt er als nicht existent. Dort gab es nur Helden des Krieges: diese hatten ihn als siegreiche Soldaten entweder überlebt oder waren gefallen. Die Millionen, die in deutscher Gefangenschaft gedarbt hatten, wurden einfach ignoriert. Denn sie waren zur Strafe, dass sie dem Feind lebend in die Hände gefallen waren, nach dem Krieg in Arbeitslagern, den berüchtigten Gulags, interniert worden. Laut Stalins Befehl waren Rotarmisten verpflichtet, bis zum letzten Atemzug zu kämpfen. Eine Gefangennahme wurde als Desertion angesehen. Auch den Familien dieser Soldaten drohten Sanktionen und Deportation.

So rollt der Film anhand eines persönlichen Schicksals ein besonders düsteres Kapitel sowjetischer Geschichte auf. Über diese sogenannten Vaterlandsverräter wusste man hierzulande bisher wenig. Auch in der Sowjetunion wurde über ihren Aufenthalt im Gulag nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen. Man wählte euphemisierende Umschreibungen wie „er saß ein“ oder „er war dort“.

Briefe über den unbarmherzigen Alltag im Lager

Die Briefe, die Valiulin seiner späteren Frau „von dort“ schrieb und die seltsamerweise nicht zensiert wurden, geben detailliert Auskunft über den unbarmherzigen Alltag. Bei Temperaturen bis zu minus 37 Grad mussten die Gefangenen draußen schuften. Die Kälte sei schlimmer als Hunger und Durst, schrieb Valiulin. Im Sommer wiederum ächzten er und seine Leidensgenossen unter der sengenden Hitze. Dennoch verlor Valiulin nicht seinen Lebensmut. Seine Briefe, die von einem russischen Sprecher gelesen und mit Fotos von ihm bebildert werden, sind voller Poesie, philosophischer Überlegungen und literarischer Anspielungen. Auch sehr schöne Aquarelle sind von ihm erhalten. Mit ihnen illustrierte er seine Lieblingsgedichte. Für die Erstellung der Farben musste er Opfer bringen, etwa seine Ölration reduzieren.

Der Film bebildert den Aufenthalt der Lagerinsassen mit Aufnahmen von arbeitenden Männern, die Bäume fällen und Baumstämme übereinander wuchten. Woher die Bilder stammen, verrät der Film nicht. Wer genau die Männer sind, weiß man ebenso wenig. Andere Archivbilder zeigen Soldaten der Roten Armee, wie sie mit schwerem Gepäck und Pferden über einen Fluss setzen. Auch hier werden die Urheber der Aufnahmen nicht genannt. Nur wenn die Kamera an Reihen völlig erschöpfter gefangener Soldaten der Sowjetarmee vorbeifährt, die stehen, liegen oder sitzen und mit leerem Blick in das Objektiv starren, lässt sich vermuten, dass es sich um von Deutschen gemachte Propagandabilder handelt.

Der gesamten Jugend beraubt

Diese Ungenauigkeiten schmälern ein wenig die historische Glaubwürdigkeit von „Das Schweigen meines Vaters“. Dennoch berührt das Schicksal dieses musisch veranlagten Mannes immens, den Krieg und Diktatur seiner ganzen Jugend beraubten. Seine Erlebnisse während des Zweiten Weltkriegs erweisen sich im Laufe des Films als immer erstaunlicher und höchst ungewöhnlich für einen einfachen Rotarmisten. So konnte er in Frankreich die Euphorie nach dem dortigen Kriegsende erleben und kurz den Geist westlicher Freiheit einatmen.

Dennoch bleibt vor allem sein Werdegang nach dem Aufenthalt im Gulag bruchstückhaft, und man wünschte sich mehr Informationen über seinen Alltag oder seine berufliche Entwicklung. Der Film konzentriert sich zunehmend auf die Befindlichkeiten der Tochter. Durch die Reise und die eingehende Beschäftigung mit ihrem Vater ist sie ihm nähergekommen. Sie kann seine seelischen Wunden besser nachfühlen und hat sich selbst auch teilweise von dem emotionalen und psychischen Druck befreit, der jahrzehntelang auf ihr lastete.

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