Dokumentarfilm | USA/Großbritannien/Niederlande 2023 | 266 Minuten

Regie: Steve McQueen

In einem essayistischen Dokumentarfilm kombinieren der Regisseur Steve McQueen und die Autorin Bianca Stigter, basierend auf deren Studie „Atlas of an Occupied City, Amsterdam 1940-1945“, Aufnahmen von Amsterdam während der Corona-Pandemie mit historischen Berichten über Menschen und Ereignisse aus der Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg. Indem die Vergangenheit von Gebäuden und Plätzen lebendig gemacht wird, entsteht eine Art Topografie des Nazi-Terrors. Das Ergebnis ist mit einer Laufzeit von über vier Stunden ein beeindruckendes Stadtmosaik, das sowohl als ein wertvoller Beitrag zur Erinnerungskultur als auch als präzise Gegenwartsstudie gelten kann. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
OCCUPIED CITY
Produktionsland
USA/Großbritannien/Niederlande
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
20th Century Studios/A24/Family Affair Films/Film4/Lammas Park/New Regency Productions
Regie
Steve McQueen
Buch
Steve McQueen · Bianca Stigter
Kamera
Lennert Hillege
Musik
Oliver Coates
Schnitt
Xander Nijsten
Länge
266 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Ein essayistischer Dokumentarfilm, der zeitgenössische Aufnahmen von Amsterdam mit historischen Berichten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs kombiniert.

Diskussion

Die Innenstadt von Amsterdam wirkt wie ausgestorben. Die Geschäftsfronten von Prada, Armani, H&M und Tesla sind verriegelt. Ein Mann streicht die Holzvertäfelungen mit schwarzer Farbe an. Nur wenige Passanten spazieren durch die Einkaufsstraße. Gesichtsmasken liegen am Boden herum. Es ist einer der tristen, winterlichen Lockdowns während der Corona-Pandemie.

Doch die Bilder lassen durch das Voice-Over noch weitere Assoziationen zu: Die Sprecherin Melanie Hyams schildert darin das Schicksal der Orte und der Betroffenen während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Sie berichtet, wie die jüdischen Stadtbewohner nach und nach aus den Geschäften, Theatern, Museen, Schulen, Schwimmhallen und allen öffentlichen Räumen zurückgedrängt wurden. In diesem Zusammenhang wirkt das leere Amsterdam der Gegenwart wie ein unheimliches Echo der Vergangenheit.

Ein filmischer Atlas von Amsterdam

Der britische Regisseur Steve McQueen kombiniert basierend auf dem Buch „Atlas of an Occupied City, Amsterdam 1940-1945“ von seiner Frau Bianca Stigter zeitgenössische Aufnahmen auf der Bildebene mit historischen Berichten auf der Tonspur als dokumentarisch-essayistische Form. Dabei verzichtet McQueen auf jegliches filmisches Archivmaterial und auch auf die sonst so üblichen Talking Heads in Geschichtsdokumentationen.

Stattdessen nennt die Sprecherin die genauen Adressen von Gebäuden, Straßen und Plätzen, an denen sich in diesem Zeitraum Verhaftungen, Hinrichtungen oder Widerstand ereignet haben. Auch die einzelnen Namen nennt sie. Beispielsweise den von Abraham Prince, der im Park spazieren ging, ohne daran zu denken, dass es ihm als Juden von den Besatzern verboten wurde. Die Polizei ergriff ihn, und die Nazis deportierten ihn. Abraham Prince hinterließ seiner nicht-jüdischen Frau eine Notiz mit der verzweifelten Bitte, dass sich seine Schwester rechtzeitig ertränken sollte.

Eine Topographie des unsichtbaren Terrors

Mit neutraler Stimme erzählt Hyams von Menschen, die sich versteckten oder die versteckt wurden, die verrieten oder die verraten wurden – von Opfern, von Überlebenden, von Kollaborateuren und von Helfern. Es sind tragische Geschichten, die auf möglichst undramatische Weise vermittelt werden. Der Effekt ist einerseits, dass der Film über vier Stunden repetitiv wirkt, andererseits manipuliert hier niemand das Publikum mit affektiven filmischen Mitteln.

Vielmehr gewinnt die Vorstellung von Amsterdam an Tiefe, je mehr Zeit vergeht und je mehr Räume erkundet werden. All die pittoresken Backsteinhäuser an den Kanälen bekommen durch die individuellen Geschichten eine Tiefenschärfe, die ansonsten leicht übersehen und schnell vergessen werden könnte. In der Traditionslinie der Oral History schaffen McQueen und Stigter damit ein ganz besonderes Stadtporträt. Ohne geographische oder chronologische Struktur gelingt es den beiden, eine Topografie des unsichtbaren Terrors aufzuzeigen, die sich unter der Gegenwartsschicht des heutigen Amsterdams befindet.

Keine Gegenwart ohne Vergangenheit

Es ist klar, in welchem zeitlichen Abstand dieser Film zum Holocaust entstanden ist. In „Shoah“ von Claude Lanzmann kamen noch die Zeitzeugen selbst zu Wort. 2023 sind die Geschichten der ehemaligen Bewohner nur bruchstückhaft oder schriftlich erhalten; Stitger und McQueen bringen stattdessen einen Ort zum Sprechen. Umso bedeutender ist „Occupied City“ als Beispiel für eine aktive Erinnerungskultur, die erschreckenderweise heutzutage von vielen reaktionären Kräften in Europa in Frage gestellt wird. Einmal filmt McQueen eine Gedenkveranstaltung an dem Holocaust-Denkmal, wo auch die Namen und die Lebensjahre der Opfer in Stein eingemeißelt sind. Der Film ist eine mediale Erweiterung davon, denn selbst physische Orte wie dieser unterliegen der Zeitlichkeit und würden ohne Erinnerungsarbeit verloren gehen.

Gleichzeitig ist der Film eine Bestandsaufnahme von Amsterdam in der Corona-Pandemie. Man sieht Spaziergänger, Jogger, Obdachlose, Lieferando-Fahrer, Kinder, Jugendliche, Rentner. Mal einzeln, mal in Gruppen, mal auf Demos gegen die Regierungsmaßnahmen in der Pandemie. Die holländische Regierung in Gestalt von Panzern und Polizei mit bellenden Hunden wirkt zusätzlich bedrohlich an Orten, wo laut Voice-Over antisemitische Razzien und Massaker stattgefunden haben. Doch nicht immer geht es um Querverweise von Ereignissen, sondern auch um deren Unterschiede. McQueen und Stigter verweisen mit diesen Bildern auf ein gegenwärtiges Amsterdam, in dem ganz im demokratischen Sinne politische Meinungsbildung auf der Straße zwischen Staatsbürgern und Staatsmacht ausgehandelt wird. Die Stadt Amsterdam lebt.

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