Im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos trifft ein junger Mann auf einen Älteren, der völlig niedergeschlagen ist. Sein Asylantrag sei erneut abgelehnt worden, klagt er, schlägt die Hände vors Gesicht und geht weinend davon. Er sehe keinen anderen Ausweg mehr, als sich umzubringen, sagt er noch.
Moria war jenes berüchtigte Lager, in dem Flüchtlinge strandeten, die über das Meer auf die nahe der türkischen Küste liegende Insel Lesbos flohen, die zu Griechenland und damit zu Europa gehört. Ursprünglich war das Lager für 2800 Menschen gedacht, doch bald lebten hier rund 20 000 Menschen unter teils katastrophalen Bedingungen. Szenen wie die eingangs geschilderte dürften dort an der Tagesordnung gewesen sein. In „Picknick in Moria“ aber ruft eine Stimme aus dem Off plötzlich: „Stop!“ – und belehrt den alten Mann: „Du musst mehr weinen!“ Es sind tatsächlich noch mehrere Takes erforderlich, bis der Regisseur endlich zufrieden ist.
Ein Film im Film
Wie kommt man auf die Idee, in einem überfüllten Flüchtlingscamp einen Spielfilm zu drehen? Für den afghanischen Regisseur Talibshah Hosini liegt die Antwort auf der Hand. Der Schauspieler ist zusammen mit seiner Frau und drei Töchtern selbst in Moria gestrandet. Irgendwann habe er die erzwungene Untätigkeit nicht mehr ausgehalten, erklärt er, und einfach etwas tun wollen. Sein Spielfilm mit dem Titel „Picnic“ hat natürlich mit dem Leben im Lager zu tun und erzählt die Geschichten seiner eigenen Familie und die anderer Flüchtlinge.
Die Dokumentarfilmerin Lina Lužyte verfolgt in „Picknick in Moria“ einerseits die Dreharbeiten zu diesem Spielfilm, andererseits streift sie aber auch immer wieder durch das Camp, um den beschwerlichen Alltag der Flüchtlinge einzufangen. Man sieht lange Menschenschlangen vor der Essensausgabe, bekommt Einblick in katastrophale hygienische Verhältnisse oder wirft einen Blick in armselige, notdürftig zusammengezimmerte Hütten, weil die offiziellen Zelte längst nicht mehr ausreichen.
Hauptprotagonist von „Picknick in Moria“ ist jedoch Talibshah Hosini, der als einziger Profi auch in seinem eigenen Film die Hauptrolle spielt. Hosini erzählt von seiner Flucht aus Afghanistan, wo er durch satirische Filme den Zorn der Taliban auf sich zog und bedroht wurde. Auch der Schönheitssalon seiner Frau wurde von den Machthabern geschlossen. Zwischendurch kommt eine Helferin vorbei, die erklärt, wie sie sich bei der kommenden Anhörung verhalten sollen, um endlich einen Flüchtlingsstatus zu erlangen.
Es gibt aber auch Sequenzen, die an klassische „Making of“-Dokus erinnern. Mal sitzt Hosini mit seinen Laiendarstellern unter einem Baum und ermahnt sie, ihre Texte zu lernen; mal erörtert er mit dem Kameramann, ob die notdürftige Beleuchtung für eine Nachtaufnahme ausreicht. Und dann gibt es eine Szene, die geradezu beklemmend wirkt. Für eine Einstellung soll seine Tochter ins Meer fallen, doch die Nichtschwimmerin lässt sich wiederholt nur ängstlich ins Wasser gleiten. Was ihren Vater zur Weißglut treibt.
Was ist echt, was inszeniert?
Bisweilen spielt der beobachtende Dokumentarfilm auch damit, dass man nicht genau weiß, ob eine Szene echt oder Teil des Spielfilms ist. So kommen zu Beginn Flüchtlinge in einem Schlauchboot im Hafen an, wo sie von wütenden Menschen zur Rückkehr in die Türkei aufgefordert werden. Vermutlich ist das eine inszenierte Einstellung, doch ganz genau weiß man es nicht. Irgendwann sieht man Talibshah Hosini, wie er in Athen in Müllcontainern nach Essen für seine Familie sucht, die auf dem Bürgersteig sitzt. Bis die Kamera zurückfährt und das Ganze als Teil des Spielfilms kenntlich macht. Gedreht wurde die Szene auch nicht in Athen, sondern vermutlich in einer Stadt auf Lesbos.
Dieses Verwirrspiel hat gegenüber klassischen Dokumentationen seinen eigenen Reiz, erliegt dabei aber nie der Gefahr, vom realen Drama der Flüchtlinge abzulenken. Gegen Ende von „Picknick in Moria“ sieht man, wie Mitwirkende und andere Lagerbewohner unter freiem Himmel der Premiere des 40-minütigen Spielfilms beiwohnen und von dem Geschehen auf der notdürftig errichteten Leinwand zutiefst ergriffen sind.