Joaquim
Biopic | Brasilien/Portugal/Spanien 2017 | 97 Minuten
Regie: Marcelo Gomes
Filmdaten
- Originaltitel
- JOAQUIM
- Produktionsland
- Brasilien/Portugal/Spanien
- Produktionsjahr
- 2017
- Produktionsfirma
- Rec Produtores Associados Ltda./Ukbar Filmes
- Regie
- Marcelo Gomes
- Buch
- Marcelo Gomes
- Kamera
- Pierre de Kerchove
- Musik
- O Grivo
- Schnitt
- Eduardo Chatagnier
- Darsteller
- Júlio Machado (Joaquim) · Isabél Zuaa (Preta) · Rômulo Braga (Januário) · Welket Bungué (João) · Nuno Lopes (Matias)
- Länge
- 97 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Biopic | Drama | Historienfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Ein Historienfilm, der den brasilianischen Nationalhelden Joaquim José da Silva Xavier alias Tiradentes konsequent entmythisiert und vom Fortdauern von postkolonialen Strukturen erzählt.
Tote Nationalhelden können immer noch zu uns sprechen. Gleich in der ersten Einstellung des Films sehen wir vor einer Kapelle den aufgespießten Kopf von Joaquim José da Silva Xavier alias Tiradentes – einem brasilianischen Freiheitskämpfer, der im Off das Wort ergreift: Verrat an der Königin von Portugal habe er begangen und werde dafür in die Geschichtsbücher eingehen. Ein heftiges Gewitter mit Regenschauer jagt über das martialische Mahnmal mitten im Regenwald. Da tote Nationalhelden wahlweise mythisiert oder entmythisiert werden, befinden sie sich im vagen Bereich zwischen Geschichtsschreibung und Legendenbildung.
„When the legend becomes fact, print the legend!“
Die Legende von Tiradentes beginnt auf einer Farm in Brasilien im 18. Jahrhundert. Dort arbeitet er als Soldat noch mit seinem Geburtsnamen Joaquim, der für die portugiesische Krone Jagd auf Goldschmuggler macht. Seine Ziele sind eine Beförderung und Edelsteine. Auf der Farm verdichtet sich das Kolonialreich mit all seinen Schattenseiten: die Soldaten peitschen die Räuber aus, die Sklaven bedienen die Kolonialherren, die sich wiederum an den Sklaven vergehen. Joaquim belauscht einmal, wie sein Vorgesetzter seine Freundin, eine afrikanische Sklavin, vergewaltigt. Joaquim flieht daraufhin und die Frau erdolcht ihren „Eigentümer“.
Die menschenverachtende Definition von Menschen als Eigentum und damit die Gleichsetzung von Menschen mit Rohstoffen halten das europäische Kolonialsystem am Laufen und führen gleichzeitig zu dessen Verfall. Denn die Ressourcen an Gold neigen sich dem Ende zu und die Gier nach mehr Eigentum treibt alle an – auch Joaquim. Er erwähnt, dass es in Brasilien drei Arten von Menschen gibt: „Banditen, Faulpelze und Korrupte.“ Er selbst zählt sich zu allen dreien. Eigeninteressen sind hier stärker als emotionale Beziehungen. Nach dem Mord der Freundin an seinem Vorgesetzten eilt er ihr nicht zur Hilfe, sondern schließt sich stattdessen einer Goldexpedition an.
Blut und Schweiß
Regisseur Marcelo Gomes vermittelt eindrucksvoll die körperliche Schwerfälligkeit einer solchen Expedition. Die Beine werden nach tagelangen Wanderungen schwerfällig, die Arme schmerzen nach endlosem Sieben von Kies im Flussbett. Dabei brennt die Sonne auf die Häupter und die Haut der Goldsucher. Blutige Schürfwunden, dreckige Gesichter, faulige Zähne – am Körper der Kolonialherren wird der Verfall der eigenen Herrschaft am deutlichsten sichtbar. Außerdem fehlt Joaquim jeglicher Respekt gegenüber einem Abgesandten aus Lissabon, und die Goldsucher misstrauen sich gegenseitig, nutzen die anderen aus, wechseln die Seiten. Irgendwann wird Joaquim in einer Höhle tatsächlich fündig und stößt auf Kristalle, aber die Verwalter schätzen die Steine als wertlos ein. Weitere Expeditionen sind für Joaquim abgesagt.
Erst gegen Ende des Films setzt die Wandlung von Joaquim zu Tiradentes ein. Unter der Wucht eines Wasserfalls lässt er die angestaute Wut mit einem Urschrei raus. Es erinnert an das Bild der biblischen Taufe, das zum Initiationsmoment der Rebellion umgedeutet wird, ohne dass darauf eine positive Entwicklung folgt: Eine Stimme in seinem Kopf treibt Joaquim in den Wahnsinn. Mit starrem Blick fixiert der Schauspieler Julio Machado sein Gegenüber. An seinem Körper erzählen der Dreck und die Wunden von lebenslanger Abnutzung. Fast fanatisch erscheint er, wenn er sich am Ende der Freiheitsbewegung anschließt. Der Film verwehrt sich einer Glorifikation des Nationalhelden.
Geschichte ohne Ende
Marcelo Gomes steht mit „Joaquim“ nicht allein da. Unter lateinamerikanischen Filmschaffenden gibt es in den letzten Jahren eine vermehrte Beschäftigung mit der kolonialen Vergangenheit. Lucrecia Martel hat sich in „Zama“ an der Fatigue eines spanischen Kolonialbeamten in Paraguay abgearbeitet, und Nino Martínez Sosa in „Liborio“ an der unerklärlichen Rückkehr eines Predigers und Freiheitsidols von den Toten in der Dominikanischen Republik. Alle drei Filme eint, dass sie die Historie als nicht-abgeschlossen betrachten. Innerhalb des postkolonialen Diskurses sind die Filme vielmehr als Kritik an der Fortführung der ungleich verteilten Machtverhältnisse zu lesen.
Auch am Ende von „Joaquim“ stellt Gomes in Frage, inwiefern und ob überhaupt die Freiheitsbewegung zu einer Verbesserung der Verhältnisse geführt hat. Da sitzt Joaquim am Tisch mit seinen Rebellengenossen – zwei weißen Priestern und einer weißen Portugiesin, die wiederum von schwarzen Angestellten bedient werden. Joaquim mampft da einen Fleischschenkel in sich hinein, während die anderen Gäste laut über sein Freiheitsgerede lachen. Durch den Film geistern immer wieder die Neuigkeiten von der Amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung. Auch dort hat der Wechsel der Herrschaftsform zu keiner Gleichberechtigung geführt. Der Figur des Joaquim ist anzusehen, dass er nichts mit dem idealisierten Tiradentes gemein hat, sondern von Jähzorn und Rache zerfressen seinen eigenen Kampf führt.