Bevor sie ihren Sohn im Gefängnis besuchen darf, muss Anna (Andrea Irvine) das Kopftuch abnehmen, das ihren von der Chemotherapie kahl gewordenen Schädel bedeckt. Aufgewühlt drückt sie es ihrem Mann Frank (John Hawkes) in die Hand und krallt sich danach noch sekundenlang an ihm fest. Anschließend geht sie allein in den Besuchsraum der Haftanstalt in Alabama, um sich von Sean (Logan Lerman) zu verabschieden, der dort eine Freiheitsstrafe wegen Autodiebstahls verbüßt. Eine letzte lange Umarmung zwischen Mutter und Sohn. Am Abend liegen Anna und Frank eng aneinander geschmiegt im Bett. Ein inniger Kuss noch, ehe Frank das Licht ausknipst.
Als es im Film danach wieder hell wird, schüttelt er Hände auf Annas Trauerfeier. Untermalt von den melancholischen Klängen der britischen Folk-Rock-Band „Matthew and the Atlas“ ist später zu sehen, wie Frank versucht, die Urne mit der Asche seiner Frau im Auto zu verstauen. Zuerst im Kofferraum, was er aber nicht übers Herz bringt. Dann auf dem Beifahrersitz, wo der Gurt keinen Halt findet. Schließlich fährt er mit der Urne auf dem Schoß nach Hause. Im Gefängnisflur hängt Sean derweil mit gesenktem Kopf den Hörer in die Gabel.
Mit schmerzhaftem Pathos
Der isländische Regisseur Elfar Aldesteins beginnt „Dem Leben auf der Spur“ mit schmerzhaftem Pathos. Ein Gefühlsüberschwang, der zu Tränen drängt und in vielerlei Hinsicht den Grundton des Films vorgibt. Adelsteins scheut weder vor plakativen Sinnbildern wie der Urne, die auf dem Beifahrersitz die Leere nach Annas Tod nicht füllen kann, noch vor Kinoklischees wie dem Anruf mit der Todesnachricht zurück. Mit Hilfe der beiden emotional gehemmten, zurückhaltend gespielten Hauptfiguren, etlicher überraschender Wendungen, eines leisen, unterschwelligen Humors und einer filigranen Montage gelingt es ihm jedoch, diese so miteinander zu verbinden, dass der Film nicht in oberflächliche Gefühlsduselei abgleitet, sondern die urtümliche Wahrheit offenbart, die sich hinter solchen Bildern verbirgt.
Als Sean aus dem Gefängnis entlassen wird, will Frank ihn abholen. Sean aber möchte nichts mit seinem Vater zu tun haben. Der Grund dafür kommt erst sehr viel später ans Licht. Sofort aber ist zu spüren, wie unterschiedlich die beiden Männer sind: der spröde, ängstlich-angepasste Vater und sein rüder, rebellischer Sohn. Der eine schlaksig und hager, der andere muskulös und viril. John Hawkes und Logan Lerman verkörpern das ungleiche Vater-Sohn-Gespann behutsam und glaubwürdig, ohne ihre Gegensätze zu überzeichnen.
Lauter unerwartete Details
Das Einzige, was die beiden Protagonisten anfangs noch zu verbinden scheint, ist die Liebe zu Anna. Deren letzter Wunsch war es, dass Vater und Sohn gemeinsam in ihr Heimatland Irland reisen, um ihre Asche dort in einem See zu verstreuen. Sean hat zunächst andere Pläne, doch als sich diese zerschlagen, lässt er sich unter der Bedingung, seinen Vater danach nie wieder sehen zu müssen, auf den gemeinsamen Trip ein. So absehbar das Ende dieser abenteuerlichen Reise durch herbstschöne irische Landschaften erscheinen mag und so unvermeidlich es aus dramaturgischer Sicht ist, dass sich den beiden unterwegs allerhand Hindernisse und Widrigkeiten in den Weg stellen, so unerwartet gestalten sich diese im Detail.
Nachdem Sean in einer Bar scheinbar zufällig Jewel (Sarah Bolger) kennengelernt hat, die vorgibt, vor einem gewalttätigen Ex-Freund auf der Flucht zu sein, und Frank sich nur widerwillig dazu bereiterklärt hat, sie auf ihrer Fahrt ein Stück mitzunehmen, schlägt der Plot wilde und doch nachvollziehbare Haken von einer Amour fou über ein Eifersuchtsdrama zu einem Thriller und zurück zum Vater-Sohn-Road-Movie. Am Ende knüpft das Drama mit voller emotionaler Wucht an das Pathos des Anfangs an. Ein tränenschweres, ergreifendes Finale in einem Film, der – um es mit dem deutschen Verleihtitel zu formulieren – mit versiert arrangierten Kinoklischees und einem feinen Gespür dem echten Leben ziemlich dicht auf die Spur kommt.