Die Welt von morgen (2022)
Biopic | Frankreich 2022 | 299 (sechs Folgen) Minuten
Regie: Katell Quillévéré
Filmdaten
- Originaltitel
- LE MONDE DE DEMAIN
- Produktionsland
- Frankreich
- Produktionsjahr
- 2022
- Produktionsfirma
- Les Films du Bélier/arte France/Perpetual Soup
- Regie
- Katell Quillévéré · Hélier Cisterne
- Buch
- Katell Quillévéré · Hélier Cisterne · Vincent Poymiro · David Elkaïm · Laurent Rigoulet
- Kamera
- Tom Harari
- Musik
- Amin Bouhafa · Dee Nasty
- Schnitt
- Lila Desiles · Jean-Baptiste Morin
- Darsteller
- Anthony Bajon (Bruno Lopes / Kool Shen) · Andranic Manet (Daniel / Dee Nasty) · Melvin Boomer (Didier Morville / Joey Starr) · Victor Bonnel (Franck Loyer / DJ S) · Léo Chalié (Béatrice)
- Länge
- 299 (sechs Folgen) Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Biopic | Drama | Musikfilm | Serie
Miniserie über die Anfänge des HipHop in Frankreich
Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre erlebt der junge Franzose Daniel Bigeault (Andranic Manet) in San Francisco den kreativen Aufbruch der US-amerikanischen HipHop-Kultur authentisch vor Ort. Bigeault ist zwar bereits ausgewiesener Funk- und Soul-Kenner, aber die Art und Weise, wie die DJs mittels zweier Plattenspieler neue Sounds produzieren, fasziniert ihn. Daniel Bigeault beschließt, diese produktive Kraft mit nach Frankreich zu nehmen, um dort als DJ Dee Nasty zu reüssieren. Er weiß, dass HipHop die Zukunft ist, aber es wird länger dauern, bis er sich in der französischen Musikszene etablieren kann: Er hangelt sich zunächst von Job zu Job, produziert ein erstes Album, muss aber immer wieder Rückschläge erleben und finanzielle Opfer bringen, um seine künstlerische Integrität zu wahren.
HipHop und Breakdance infizieren die Banlieues
Gleichzeitig entdecken auch die Jugendlichen in den nördlichen Banlieues von Paris HipHop und beginnen, sich für Breakdance zu begeistern. Bruno (Anthony Bajon) ist ein talentierter Fußballer, steht kurz vor einem Vertragsabschluss, aber plötzlich geht sein Interesse am Ballsport flöten. Sein Vater, gerade noch stolz auf das Talent des Sohnes, fragt nach Ansicht der ersten Breakdance-Moves ratlos: „Was ist der Plan dahinter?“ Brunos Antwort lautet: „Keine Ahnung, aber es sieht gut aus!“
Als Florian Gaag im Frühjahr 2022 mit der Serie „Almost Fly“ seine Version der Anfänge des deutschen HipHop ausbreitete, entschied er sich für die launig-skurrile Variante des D.I.Y. in der Provinz voller (produktiver) Missverständnisse und niedlicher Selbstermächtigungen. Hier wurde HipHop gewissermaßen im heimischen Keller auf kuriosen Umwegen enthusiastisch nachgebastelt. (Funfact: Der amerikanische GI und Mentor, der der Atomic Trinity in „Almost Fly“ sein Profi-Equipment überlässt, als er in den Irak-Krieg ziehen muss, trägt den Namen DJ Nasty D.) Das französische Drehbuch- und Produzenten-Team um Katell Quillévére´ (die auch als Regisseurin mitgewirkt hat), Vincent Poymiro, David Elkaïm und Hélier Cisterne geht die Sache ungleich verbindlicher und seriöser an, was auch damit zu tun hat, dass ihre Protagonist:innen keine fiktiven Figuren sind.
Hommage auf reale Hiphop-Pioniere
Bruno und sein Breakdance-Kumpel Didier formieren als Kool Shen und Joeystarr die Crew Supreme NTM („Nique Ta Mère“), die für ihre autoritätskritischen und gewaltbeeinflussten Texte zwar kontrovers diskutiert und teilweise von Seiten des Staats sanktioniert wird, aber kommerziell sehr erfolgreich ist. Daniel Bigeault aka DJ Dee Nasty veröffentlicht 1984 das in Eigenproduktion entstandene Album „Paname City Rappin’“, das als erstes französische Rap-Album gilt. Später organisierte er HipHop-Events, in deren Rahmen unter anderen Supreme NTM performten, arbeitete mit Les Rita Mitsouko und den Beastie Boys und war Teil von Afrika Bambaataas Zulu Nation.
Eine Vision, aber kein Plan
Zwar heißt es zu Beginn jeder Folge: „Basierend auf Archivmaterial und Zeugenaussagen wurden manche Details aus dramaturgischen Gründen angepasst“, aber trotzdem kommt „Die Welt von morgen“ recht authentisch und realistisch rüber, weil die Protagonist:innen zwar eine Vision haben, aber keinen Plan. In liebevoll und eben detailreichen Episoden wird der Prozess einer positiven kulturellen Aneignung nachgezeichnet, innerhalb der alle Elemente des HipHop dazu dienen, den Akteuren Zugang zu ihren kreativen Ausdrucksmöglichkeiten zu eröffnen. Inklusive diverser Widersprüche und Widerstände.
In einer sehr schönen Episode erklärt Didiers Vater, selbst ein durchaus professioneller „Old School“-DJ, seinem Sohn, dass derjenige, der alles hören wolle, alles kennen müsse. Das Plattenauflegen ist ihm noch Dienstleistung plus Geheimwissen. Seiner Kompetenz als DJ steht sein Versagen als gewalttätiger Vater entgegen, was wiederum Didiers Attitüde prägt, der kein „Scheißkünstler“ sein will. Schließlich ist da auch noch seine Freundin, die Rapperin und Choreografin Lady-V, die ihrerseits unter dem Macho-Gehabe der Szene zu leiden hat.
„Die Welt von morgen“ nimmt sich Zeit für ihre Figuren, die zu unbekannten Ufern aufbrechen, und begegnet ihnen nicht nur mit Respekt, sondern gesteht ihnen durch abschweifende Details und Anekdoten eine Komplexität zu, die den klischeebehafteten Erzählungen üblicher Musikerbiografien entgegenarbeitet. Unbedingt sehenswert!