Ihre Opfer wollen Esthers Lügen glauben. So unwahrscheinlich es erscheinen mag, dass ein jahrelang vermisstes Kind seinen Weg aus einem fremden Land zurück nach Hause findet und nun deutlich gealtert, mit breitem Akzent und großen Erinnerungslücken seine Eltern wieder in die Arme schließt, so unmöglich diese glückliche Fügung auch erscheinen mag, die trauernden Eltern wollen nicht zweifeln. Sie wollen ihre oder vielleicht einfach nur eine Tochter in die Arme schließen. Doch Esther (Isabelle Fuhrman) ist weder ihre Tochter noch ein Kind. Die mörderische Soziopathin, die sich in fremde Familien einschleicht, ist eine erwachsene Frau. Eine Drüsenkrankheit gibt ihr das für ihren Betrug nötige kindliche Aussehen.
„Orphan: First Kill“ ist der zweite Kinoauftritt der jungen, aber in Wirklichkeit eben doch schon älteren Protagonistin. Das Prequel, das mehr als eine Dekade nach dem Vorgängerfilm „Orphan“ (2009) jetzt in die Kinos kommt, beginnt nicht im Schoß einer nichtsahnenden Familie, sondern in einem Sanatorium in Estland. Mit einer Kunsttherapeutin betritt man den Hochsicherheitstrakt, in dem Leena, die sich bald Esther nennen wird, die berüchtigtste Insassin ist. Nicht ohne Grund, wie die Therapeutin bald am eigenen Leib erfährt, als Leena alias Esther sie benutzt, um aus der Anstalt auszubrechen.
Neuauflage in Richtung Genre-Irrsinn
Nach der Flucht wandert der Film zunächst geduldig die Pfade ab, die der Vorgängerfilm von 2009 bereits gebahnt hat. Sich als die vermisste Esther ausgebend, schleicht sich die Protagonistin in eine wohlhabende Familie ein. Vater Allen (Rossif Sutherland) akzeptiert die „neue“ Tochter sofort, Mutter Tricia (Julia Stiles) und Sohn Gunnar (Matthew Finlan) sehen hingegen sofort die Ungereimtheiten hinter Esthers wundersamer Wiederkehr. Das Misstrauen der Familie, das der Film mitunter quälend geduldig, aber ohne jeglichen Sinn für Feinheiten aufbaut, löst der Schlussteil umso spektakulärer ein. Was als dröge Neuauflage der bekannten Motive beginnt, driftet bald tief in Richtung Genre-Irrsinn und Camp ab.
Die Serienmörderin im Tochteraufzug und das misstrauische und alles andere als unschuldige Mutter-Sohn-Gespann tragen hinter dem Rücken des Vaters und der Familientherapeutin bald ein mörderisches Duell mit Sticheleien und Stichwaffen aus.
Dabei ist sich der Film für keine Absurdität und keine Spielerei mit der eigenen Prämisse zu schade. Der Umstand, dass „Orphan: First Kill“ die ernsthaften Motive der Geschichte so wenig interessieren wie deren geschmackvolle Inszenierung, ist dabei die große Stärke des Films. Statt einer Reflexion elterlicher Trauerarbeit oder einer tieferen Auseinandersetzung mit der Identitätskrise einer erwachsenen Frau, deren Körper im Kindesalter gefangen bleibt, folgt der Film schlicht dem Wahnwitz der ebenso grotesken wie unterhaltsamen Trivialität des Familienduells.
Gespür für die tragische Grundierung
Isabelle Fuhrman und Julia Stiles bringen genug Charisma und Gespür für die tragische Grundierung ihrer Figuren mit, dass diese ins Horrorgenre verlegte Daily-Soap sich nicht zur Nummernrevue wandelt. Freilich gibt der Film den Figuren nie genug Fundament, um Fragen nach Motivation oder Sinnhaftigkeit des innerfamiliären Treibens beantworten zu können, aber die hat der Film letztlich auch nicht nötig. Man muss die Lüge nur glauben wollen.