Ungesühnte Schläge

Drama | Polen/Tschechien/Frankreich 2021 | 160 Minuten

Regie: Jan P. Matuszyński

Im Frühjahr 1983 wird ein polnischer Abiturient nach einer willkürlichen Verhaftung auf der Polizeiwache zu Tode geprügelt. Die Behörden versuchen mit großem Aufwand, die Tat zu vertuschen, haben aber nicht mit der Hartnäckigkeit des einzigen Tatzeugen gerechnet. In einer vom Kriegsrecht und allgegenwärtiger Repression geprägten Gesellschaft wird ein Prozess inszeniert, der Unschuldige zu Tätern macht. Ein spannendes, sorgfältig inszeniertes Historiendrama nach wahren Geschehnissen, Thriller und Gesellschaftsstudie in einem. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
ZEBY NIE BYLO SLADOW
Produktionsland
Polen/Tschechien/Frankreich
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Aurum Film/Canal+/Kino Swiat/Les Contes modernes/Background Films/Arte France/MagicLab/Ceska Televize
Regie
Jan P. Matuszyński
Buch
Kaja Krawczyk-Wnuk
Kamera
Kacper Fertacz
Musik
Ibrahim Maalouf
Schnitt
Przemyslaw Chruścielewski
Darsteller
Tomasz Ziętek (Jurek) · Mateusz Górski (Grzegorz Przemyk) · Sandra Korzeniak (Barbara Sadowska) · Jacek Braciak (Tadeusz Popiel) · Agnieszka Grochowska (Grazyna Popiel)
Länge
160 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Auf authentischen Begebenheiten beruhendes Drama über den Totschlag eines polnischen Abiturienten durch die Miliz und den vom Geheimdienst manipulierten Strafprozess.

Diskussion

Eigentlich will Grzegorz Przemyk (Mateusz Górski) in der Altstadt von Warschau mit seinen Kollegen nur ihre Abiturprüfung feiern. Doch nachdem er seinen Freund Jurek (Tomasz Zietek) aus Spaß umrempelt, verlangen zwei Milizionäre seine Papiere. Im Frühjahr 1983 herrscht in Polen das Kriegsrecht. General Wojciech Jaruzelski hat als kommunistischer Ministerpräsident Ausgehsperren verhängt, die Grenzen geschlossen und Oppositionelle verhaften lassen. Die Staatsorgane und ihre Befehlsempfänger schalten und walten willkürlich und zum Teil auch sehr gewalttätig. Als Grzegorz sich weigert, seinen Ausweis zu zeigen, werden er und Jurek verhaftet. Auf der Wache schlagen die Milizionäre Grzegorz so brutal zusammen, dass er zwei Tage später an seinen inneren Verletzungen stirbt.

Ein Totschlag mit Folgen

Vor dem Begräbnis des Abiturienten, auf dem der oppositionelle Priester Jerzy Popieluszko die Trauerrede hält, muss Jurek allerdings in Sicherheit gebracht werden. Er ist der einzige Zeuge; der Geheimdienst sucht bereits nach ihm. Nachdem Grzegorz’ Mutter, die Dichterin und Solidarnosc-Aktivistin Barbara Sadowska (Sandra Korzeniak), sich an die internationale Presse gewandt hat, wird der Totschlag durch die BBC und Radio Free Europe auch im Westen bekannt. Bei der Trauerfeier und einem anschließenden Schweigemarsch zum Friedhof, an dem Zehntausende teilnehmen, müssen sich die Staatsorgane zurückhalten. Kurz darauf aber landet die Affäre auf dem Konferenztisch von General Jaruzelski.

Der Innenminister Czeslaw Kiszczak (Robert Wieckiewicz) will die Angelegenheit vertuschen. Doch das gelingt nicht. Es soll zu einem Prozess kommen, für den Jurek sein Versteck verlässt und unter dem Schutz einer wohlwollenden Staatsanwältin zwei Peiniger von Grzegorz identifiziert. Der Geheimdienst kann ihn deshalb nicht mehr beseitigen. Doch sowohl er als auch Barbara Sadowska stehen fortan unter ständigem Druck. Jurek wird sogar von seinem eigenen Vater bespitzelt. Schließlich bestimmt die Staatsmacht Sündenböcke, um die wahren Täter zu decken.

Den Fall Grzegorz Przemyk ist historisch verbürgt. Er wurde von einem anderen Sohn der Dichterin Barbara Sadowska, Cezary Lazarewicz, in einem Buch festgehalten, auf dem der Film basiert. Der Totschlag an Grzegorz Przemyk hatte weitreichende Konsequenzen. Wahrscheinlich hängt auch der Mord an dem beliebten Priester Jerzy Popieluszko ein Jahr später ebenfalls damit zusammen, dass die Deckung der Schuldigen im Fall Przemyk so gut funktionierte.

Ein eiskalter Apparatschik

Regisseur Jan P. Matuszynski erzählt das Drama meist aus der Opferperspektive, doch er benennt auch die Täter an höchster Stelle. So kommt dem Innenminister Kiszczak als dem politischen Hauptverantwortlichen eine besondere Rolle zu. Robert Wieckiewicz spielt ihn als eiskalten, skrupellosen Apparatschik, der sich innerhalb des Ministerrats gegen Widersacher durchsetzt und auch die rechtstreuen, unbestechlichen Staatsanwälte durch ihm ergebene Marionetten austauscht. Ein paar Jahre später war Kiszczak auch für die sogenannte Operation Hyakinthos gegen Homosexuelle in Polen verantwortlich. Und nach der Wende sorgte er dafür, dass belastende Akten des Geheimdienstes vernichtet wurden.

Mit welcher Heimtücke und Kälte die Repräsentanten des in Bedrängnis geratenen autoritären Systems ihre Opponenten ausschalteten, führt der Film eindrücklich vor Augen. Nicht nur die ohne menschliche Regung operierende neue Staatsanwältin, sondern auch Spitzel und Schergen auf unteren Ebenen arbeiteten Hand in Hand. Menschen sollten gebrochen werden, was zum Teil auch gelang. Dazu waren Regierung und Geheimdienst alle Mittel recht. So geht im Film auch durch Jureks Familie ein Riss, denn die Eltern zeigen wenig Verständnis dafür, dass ihr Sohn die Unschuld seines zu Tode geprügelten Freundes Grzegorz beweisen will.

Der vom polnischen Original übernommene internationale Filmtitel „Leave no traces“ spielt auf den Befehl eines führenden Milizionärs an, Grzegorz auf der Wache so zu schlagen, dass keine sichtbaren Spuren zurückbleiben. Auf diese Weise vertuschten die Täter ihr brutales Vorgehen, und so ging im übertragenen Sinne auch die Staatsgewalt vor. Sie schoben die Schuld auf wehrlose Sündenböcke. Zudem soll Jurek als einziger Zeuge diskreditiert werden, ebenso Grzegorzs Mutter. Jurek hält man Jugendsünden vor, der Dichterin werden jüngere Liebhaber zum Verhängnis.

Blau-grün wie bei der Stasi

Es gelingt der Inszenierung, die bedrückende Atmosphäre in der polnischen Gesellschaft während des Kriegsrechts nachzuzeichnen. Während die jungen Männer im hellen Frühlingslicht zu Beginn des Films noch fröhlich scherzen und Pläne für ihr weiteres Leben entwerfen, zeitigen die bedrückenden Ereignisse eine ganz andere Form. Die Bilder sind so düster wie die Orte, in denen sich die Figuren bewegen: Plattenbauten in der Provinz, in der Jureks Eltern leben, dunkle Interieurs in Wohnungen und Gefängniszellen, schmutzige braun-grüne Kacheln in einem Waschraum, in dem eine vermeintliche Tat nachgestellt wird. Die polnischen Amtsstuben gleichen den Interieurs der Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg. Dagegen lässt die Entmachtung aufrechter Juristen, die auf Schleudersitzen saßen, Parallelen zur Entstehungszeit des Films in den Jahren 2020/2021 aufkommen. Damals beschnitt die PíS-Regierung massiv die Befugnisse der Justiz.

„Ungesühnte Schläge“ ist nicht zuletzt auch ein Krimi. Kommt der Prozess zustande und wenn ja, wie? Spannung entsteht auch dadurch, dass der junge Protagonist Jurek ständig unter Überwachung steht. Operative Vorgänge im Haus seiner Eltern samt Verwanzung und Beschlagnahmung von Privatkorrespondenz muss er ebenso erdulden wie Agenten, die ihn auf Schritt und Tritt verfolgen.

Auch die Darsteller tragen viel zum Gelingen des packenden Historiendramas bei. Bekannte polnische Schauspieler wie Wieckiewicz als Innenminister, Tomasz Kot als Geheimdienst-Scherge oder Andrzej Chyra als Parteisekretär zeigen ihr Können genauso wie der junge Tomasz Zietek. Seine Figur des Jurek stattet er mit all der Verzweiflung und dem trotzigen Mut aus, die sein historisches Vorbild damals empfunden haben muss.

Kommentar verfassen

Kommentieren