Menschen neigen dazu, in Kategorien zu denken. In Bezug auf das jüngere Œuvre des Animationsstudios Pixar fällt das leicht, lassen sich darin doch zwei grundsätzliche Ansätze erkennen. Einerseits gibt es Filme, in denen mal mehr, mal weniger abstrakte Objekte und Konzepte anthropomorphisiert und emotionalisiert werden, „Toy Story“, „Cars“ oder „Alles steht Kopf“ etwa und zuletzt „Soul“. Daneben aber gibt es Filme, in denen fantastische Kreaturen einen „Coming of Age“-Prozess durchleben: „Arlo & Spot“, „Onward“ – und die jüngste Kreation „Luca“.
Der Titelheld dieser Geschichte ist ein Seeungeheuer. Kein 20 Meter langes mit scharfen Klauen und Hunger auf Menschen, sondern ein überraschend menschliches, physisch wie psychisch. Luca lebt mit seiner Familie im Mittelmeer nahe der italienischen Küste; tagsüber hilft er als Fischhirte aus, abends muss er pünktlich zuhause sein. Keine Highlights, keine Abenteuer, keine Abwechslung. Große Ausflüge und erst recht ein Besuch der Oberfläche sind tabu – dort lauern die Menschen mit ihren Haken und Netzen; sie machen Jagd auf die Meereswesen, heißt es.
Auch unter Seeungeheuern ist das Denken in simplen Kategorien wie „wir“ und „die“, „gut“ und „böse“ also verbreitet. Allerdings fallen derartige Ressentiments schnell in sich zusammen, sobald es zu realen Begegnungen mit den „anderen“ kommt. Genau das steht Luca bevor.
Auf der Vespa in die Freiheit
Die Initialzündung kommt von Alberto, einem anderen Seeungeheuer, etwa im gleichen Alter wie Luca, dem der Titelheld zufällig begegnet und an die Oberfläche folgt. Dort stellt er überraschend fest, dass Seeungeheuer Menschengestalt annehmen, sobald sie sich auf festem Terrain befinden. Die ersten Schritte wollen noch geübt werden, doch schon bald lädt Alberto seinen neuen Freund in seine Behausung ein und begeistert ihn für ein magisches Menschengefährt namens Vespa, das ihnen Freiheit verspricht.
Nach mehreren erfolglosen Versuchen, selbst einen Roller zu bauen, begeben sich beide in eine nahe gelegene Küstenstadt und wittern dort eine Chance: Vom Preisgeld eines Triathlons wollen sie sich eine Vespa zulegen und anschließend durch die Welt reisen.
Mit dem Begriff „Sommerfilm“ ist meist ein narratives Grundgerüst gemeint mit einem sonnendurchfluteten Abenteuer, bei dem neue Freundschaften geschlossen oder alte gefestigt werden, ein Abschnitt im Leben eines jungen Menschen, der Abschied und Umbruch bedeutet, ein letztes Aufbegehren der Freiheit, bevor der Ernst des Lebens in Form des Schul- oder Uni-Alltags zurückkehrt. Geschichten, die die Protagonisten auf ewig prägen, aber für die Zuschauer vordergründig eine emotionale und atmosphärische Momentaufnahme sind. In dieser Hinsicht ist „Luca“ ein perfekter Sommerfilm.
Spiel mit Identität
Das Duo Luca und Alberto wird schnell zum Trio, als sich ihnen die Einheimische Daniela anschließt. Die drei wollen den Triathlon bewältigen, wobei es Daniela vor allem darum geht, sich selbst zu beweisen und dem angeberischen Lorenzo eine Abreibung zu verpassen, der hier die Genre-übliche Rolle des adoleszent-repressiven Antagonisten ausfüllt. Daneben ist es vor allem Danielas Vater, der eine kleine, aber umso wichtigere Rolle einnimmt: Der grummelige Fischer ist davon besessen, den in der örtlichen Folklore als grausiger Mythos verankerten Seeungeheuern den Garaus zu machen. Luca und Alberto müssen deshalb umso mehr darauf achten, dass ihre menschliche Tarnung erhalten bleibt, die sich bei Kontakt mit Wasser sofort auflöst.
Das (Versteck-)Spiel mit und die Modifizierung von Identitäten, der mimetische Prozess, sich seinem Umfeld anzupassen, um dazuzugehören und im gleichen Atemzug von ihm geformt zu werden, im guten wie im schlechten Sinne, ist die Essenz des Coming-of-Age-Parts von „Luca“ und wird sowohl auf kognitiver als auch körperlicher Ebene ausgearbeitet.
Brücken überwinden
Daneben stehen drei andere klassische Genrethemen im Fokus. Das erste: Freundschaft, die Verpflichtungen, die sie mit sich bringt, und ihre Fragilität. Das resultiert in einem hochemotionalen, ja herzzerreißenden Moment, der so typisch Pixar ist, wie es nur geht.
Das zweite Thema: Akzeptanz und Toleranz des Andersartigen. Denn schlussendlich werden – wenig überraschend - die Klischees auf beiden Seiten ad acta gelegt, die Kategorien überwunden und Brücken geschlagen. Und das dritte: Familie, das omnipräsente Motiv nahezu aller Disney- und Pixar-Filme. „Luca“ tut sich in diesem Kontext dadurch hervor, dass hier nicht wie in „Alles steht Kopf“, „Coco“ oder „Raya und der letzte Drache“ die Rückkehr zur heil(ig)en Einheit aus Mutter-Vater-Kind beschworen wird, sondern eine Emanzipation von der Elterngeneration (und damit auch ihren Vorstellungen von der Welt) stattfindet.
Es steckt also so einiges in diesem Film, nicht nur technisch – „Luca“ strotzt, ganz in der Tradition von Pixar, vor technischer Brillanz, einer perfekten Lichtstimmung, Landschaften und Orten an der Schwelle zum Fotorealismus und sympathisch comichaft-abstrahierten Charakterdesigns. Auch inhaltlich hat der Film mehr Substanz, als sich in vielen (gern abschätzig) als Sommerfilm bezeichneten Werke finden lässt. Und dennoch ist „Luca“ genau das: ein launiger Sommerfilm, eine emotionale Momentaufnahme im Coming-of-Age-Gewand, die voller Vitalität und Lebensfreude steckt. Und damit perfekt in den Sommer 2021 passt.