Dokumentarfilm | Schweiz 2020 | 83 Minuten

Regie: Jonas Schaffter

Seit 2016 können in der Schweiz straffällig gewordene Personen, die über keinen Schweizer Pass verfügen, nach Vollzug der Haftstrafe ins Land ihrer Herkunft ausgewiesen werden. Auch dann, wenn sie von Geburt an in der Schweiz gelebt haben. Der Dokumentarfilm porträtiert drei Männer, die sich aufgrund dieser Bestimmung unverhofft in der Türkei wiedergefunden haben. Im Fokus des diskret beobachtenden, feinfühligen Films stehen nicht die begangenen Straftaten, sondern die Frage, welche Identität Menschen entwickeln, die zwischen zwei Kulturen stehen, aber auch ihr Heimweh und ihre Sehnsüchte nach einer Heimat. - Ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
ARADA
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
soap factory/ZHdK
Regie
Jonas Schaffter
Buch
Jonas Schaffter
Kamera
Simon Denzler
Musik
Thomas Jeker
Schnitt
Roland von Tessin · Selin Dettwiler
Länge
83 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm

Dokumentarfilm über drei Männer, die nach Straftaten in der Schweiz in die Türkei abgeschoben wurden, und über ihre Sehnsucht nach dem, was sie zurückgelassen haben.

Diskussion

Zur besseren Verständlichkeit sei vorangestellt, was in dem Dokumentarfilm „Arada - Verbannt in eine fremde Heimat“ erst im Abspann in drei Textblöcken kurz erwähnt wird. Die Schweiz ist ein Einwanderungsland. Rund ein Viertel der in der Schweiz wohnhaften Personen verfügt über keinen Schweizer Pass. Diese Zahl ist trotz Pandemie steigend.

In den ersten zwei Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts wurde in der Schweiz eine rege Ausländerdebatte geführt. 2010 nahm die Schweizer Bevölkerung mehrheitlich die Initiative über die „Ausschaffung krimineller Ausländer“ an. Diese wird seit 2016 umgesetzt und sieht vor, dass in Schweiz straffällig gewordene Ausländer nach Vollzug der Strafe ins Land ihrer Herkunft ausgewiesen werden (können). Dies gilt – sofern nicht ein Härtefall vorliegt – auch für „Secondos“, Familienangehörige, die in der Schweiz geboren und aufgewachsen sind und davor nie im Herkunftsland ihrer Eltern gewohnt haben.

Unvermittelt mitten in Istanbul

Zwei solcher Secondos sowie ein Mann, der als Kind mit seinen Eltern in die Schweiz kam, stehen im Zentrum von „Arada“ von Jonas Schaffter. Der Film beginnt relativ unvermittelt mit einer diskret aus der Distanz gefilmten abendlichen Straßenszene aus Istanbul. Ob er ein Star sei, wird der leidlich als Protagonist auszumachende Mann gefragt. Nein, antwortet er, man filme für ein Projekt beziehungsweise einen Dokumentarfilm. Sein Name ist Vedat. In der nächsten Szene trifft man ihn in einer sauber aufgeräumten Wohnung in einem Mehrfamilienhaus am Rande der Stadt. Vedat arbeitet für ein Callcenter, genauso wie der zweit Protagonist Duran und viele andere, deren Leben sich zwischen der Schweiz und der Türkei abspielt.

Vedat sitzt im Wohnzimmer mit Kopfhörer und Laptop am Tisch und führt mit einer Kundin ein Verkaufsgespräch. Er spricht perfekt Schweizerdeutsch, die Sprache ist ihm so vertraut wie das Türkische, das er auf der Straße, mit Bekannten und seinen Familienangehörigen spricht. Ebenso wie Duran bedient er sich bei der Arbeit eines die Schweizerische Nationalität vorgaukelnden Pseudonyms.

Genaue Tatbestände werden nicht benannt

Vedat, Duran und auch Mustafa, der dritte Protagonist, sind in der Schweiz straffällig geworden. Mustafa musste bereits vor über 20 Jahren zurück in die Türkei. Er lebt nicht in Istanbul, sondern betreibt in einem Bergdorf einen Hof. Er hat in der Türkei eine neue Existenz aufgebaut, ein zweites Mal geheiratet und zwei halbwüchsige Töchter.

Es gibt in „Arada“ nach etwa zehn Minuten eine kurze Passage, in der sich über nachtdunkle Stadtbilder eine Art mehrstimmige Collage legt, in der vereinzelte Begriffe und Wörter auftauchen, die auf begangene Untaten verweisen. Von Gewalt ist die Rede, von Diebstählen und Drogen. Genaue Tatbestände werden nicht genannt; die Stimmen lassen sich auch nicht zuordnen.

Mustafa erzählt später einmal elliptisch von falschen Kreisen, in die er als junger Mann geraten ist, und vom Mitläufertum. Sein anderes Problem war offenbar der Geschwindigkeitsrausch. Doch die Straftaten und Vergehen der Protagonisten interessieren Schaffter nicht. Der Regisseur hat die Türkei während eines Studienaufenthalts in Istanbul kennengelernt und ist als Fotograf und Filmemacher dort hängengeblieben. 2015 hat er „Offside Istanbul“ gedreht, einen 52-minütigen Dokumentarfilm über afrikanische Fußballspieler, die mit falschen Versprechungen in die Türkei gelockt werden.

Schon in diesem Film klang an, was in „Arada“ Thema ist: das Dazwischen, in dem sich Menschen bewegen, die in zwei Kulturen zuhause sind. Schaffter interessiert sich insbesondere für Personen, die unfreiwillig in diese Zwischenwelt gezwungen werden, und für ihre Befindlichkeit.

Heimweh und Sehnsucht

Für ihr Heimweh. Ihre Sehnsucht nach den in der Schweiz zurückgelassenen Menschen. Nach dem erwachsenen Sohn aus erster Ehe, den Mustafa seit Jahren nicht mehr gesehen hat und der sich bei ihm nicht mehr meldet. Nach der Schwester und dem Bruder und ihren Familien, die nach wie vor in der Schweiz leben. Aber auch nach dem Ort, an dem er in der Schweiz zuhause war. Dem Haus mit dem Garten. Dem Ufer der Aare, an dem entlang Vedat nur zu gern einmal wieder spazieren würde. Stattdessen hängt er ein Panoramabild der Solothurner Uferpromenade an die Wand über sein Sofa in Istanbul.

Vedats Mutter, die in der Türkei aufgewachsen und mit ihrem Sohn in ihre alte Heimat zurückgekehrt ist, reist nach einer Weile wieder in die Schweiz. Sie hat die Wahl, frei zu bestimmen, was Mustafa, Vedat und Duran per Gerichtsentscheid für eine kürzere oder längere Zeit, vielleicht sogar fürs ganze Leben verwehrt ist: den Ort, an dem – und damit auch die Gesellschaft und Kultur, in der – man leben möchte.

Vor ihrer Abreise schenkt die Mutter Vedat ein Hündchen, um das er sich fortan kümmern soll. Manchmal drücken Gesten und Taten das aus, was in Worten nicht zu fassen ist. Und manchmal gibt es – so wie bei Duran, der kurz vor seiner Abschiebung Vater wurde und nach einer Weile von seiner nach wie vor in der Schweiz lebenden Frau und seinem Söhnchen besucht wird – am Telefon einfach nichts mehr zu erzählen. Weil der Alltag, wenn man an einem fremden Ort stets nur von zu Hause aus arbeitet, irgendwann nur noch monoton und langweilig ist. Und man in einer endlosen Schleife hängt, aus der einen Telefonate nicht zu befreien vermögen.

Raum für Selbstdarstellung

Schaffter hat Mustafa, Vedat und Duran im Laufe mehrere Monate öfters besucht, sich mit ihnen unterhalten und sie im Alltag beobachtet. Zwischen die Szenen der einzelnen Begegnungen sind Passagen mit nächtlichen Stimmungsbildern montiert, meist aus der Stadt, ein- zweimal auch aus dem Dorf, in dem Mustafa lebt. Die Kamera von Simon Denzler ist weitgehend beobachtend und diskret. Sie fokussiert, auch in den seltenen Begegnungen mit Familienangehörigen, ausschließlich auf die Protagonisten. Das tut dem Film gut und zeugt von der Feinfühligkeit des Regisseurs, der den Protagonisten Raum für ihre Selbstdarstellung lässt. Gleichzeitig verortet der Film die drei Männer auch in der Landschaft und in der Umgebung, in der sie sich notgedrungen zu arrangieren haben.

Das vielleicht Wichtigste aber ist das titelgebende „Dazwischen“, was sich in Bildern und Tönen nicht einfangen lässt. Diese im Titel anklingende Leere, die sowohl ein Nirwana als auch eine „Twilight Zone“ sein kann: ein von der Dämmerung überlagerter Nicht-Ort, der jene, die sich darin aufhalten, immer wieder in emotionale Untiefen geraten lässt. Selbst einen wie Mustafa, der sich nach 25 Jahren in der anderen Heimat längst eingelebt hat, aber die Schweiz dennoch gerne mal besuchen würde, auch wenn er auf Dauer nicht dorthin zurückkehren würde.

In den Köpfen der Protagonisten, so Schaffter, sei die Schweiz ein idealisiertes Paradies. Gerne hätte er beobachtet, was passiert, wenn einer der Protagonisten in die Schweiz zurückgekehrt wäre. Doch das blieb Mustafa, Duran und Vedat verwehrt, zumindest während der Zeit, in der „Arada“ entstand.

Kommentar verfassen

Kommentieren