Das Dilemma mit den sozialen Medien

Jörg Marsilius | 16.10.2020

Bin da etwas anderer Meinung. Klar, das ist nicht nüchtern betrachtender Dokumentarfilm der Marke Errol Morris, nicht Frederick Wiseman (ganz andere Generation und Thematik), nicht Alex Gibney und auch nicht Laura Poitras. Aber was macht Oscar-Preisträger Michael Moore mitunter? Ganz sicher keine ausgewogene öffentlich-rechtliche Rundumbeleuchtung. Und trotzdem: Sein Stellenwert ist unbestritten. (Ok, viel mehr offensichtliche Show und Witz, manchmal auch in all seiner Verzweiflung.) Nein, die oben besprochene Doku ist einfach so angelegt, dass sie bestimmte Zuschauergruppen, zu der nicht die der Filmkritiker zählt, erreichen kann. Ich denke auch festgestellt zu haben, dass ihren Machern das Thema sehr am Herzen liegt und sie wissen, dass sie hier nicht mit durchdeklinierten Statistiken zum Ziel kommen (die Selbstmordstatistik war freilich etwas heavy). Sie wollen aufrütteln - und dazu haben sie einige wirklich kompetente Gesprächspartner zu Wort kommen lassen. Einem Mark Zuckerberg, oder Larry Page muss man hier wahrlich der Balance wegen eine Plattform bieten. Ja, das ist ein Frontalangriff mit Anliegen. So verwerflich, weil nicht öffentlich-rechtlich ausbalanciert? Populär-akademisch zu behaupten, es spielten immer mehrere Faktoren bei sozialen Prozessen eine Rolle - geschenkt! Hier ging es den Machern darum, eine Gruppe von (jungen) Menschen aufzurütteln, die kaum ein Bewusstsein dafür haben, in was für einem Treibsand sie mittlerweile stecken - und nicht nur sie. Und das hat der Film, wenn ich in den Freundeskreis meiner Tochter schaue, erstmal erreicht. Dass ausgerechnet Algorithmus-Spezialist Netflix diese Doku präsentiert, birgt sicher eine gewisse Ironie. Und ja: Ich war froh, dass am Ende, wenn auch etwas forciert, der Optimismus doch noch beschworen wurde. Fazit: Aufrüttelnd, sehens- und diskussionswert. Zum Retweet aber leider eher nicht geeignet!