CHADDR - Unter uns der Fluss
Dokumentarfilm | Deutschland 2020 | Festival: 77 Kino: 90 Minuten
Regie: Minsu Park
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2020
- Produktionsfirma
- Karbe Film
- Regie
- Minsu Park
- Buch
- Gregor Koppenburg
- Kamera
- Minsu Park
- Schnitt
- Ulrike Tortora
- Länge
- Festival: 77 Kino: 90 Minuten
- Kinostart
- 19.08.2021
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Doku über eine Familie im indischen Teil des Himalaja-Gebirges, deren 18-jährige Tochter ein Internat in der Kreisstadt besucht, die sie nur über einen lebensgefährlichen Bergpfad erreichen kann.
Am Anfang sieht man nur ein Paar Stiefel und wie die darin steckende Person versucht, sich auf rutschigem Eis vorwärtszubewegen. Die dünne Oberfläche kann jederzeit nachgeben; man spürt, dass dies keine harmlose Schlitterpartie ist. Wenig später versteht man, dass hier ein Vater und seine Tochter den Weg beschreiten: ihren Schulweg. Für das Kind ist er lebensnotwendig, für ihn ist es eine Frage der väterlichen Ehre, sie zu begleiten und zu beschützen.
Die mehrere Tage währende Reise unternehmen Tochter und Vater ein- bis zweimal pro Jahr; sie führt von ihrem Heimatdorf zur Kreisstadt Leh im nördlichsten indischen Bundesstaat Jammu und Kashmir. Leh, das auch indisches Tibet genannt wird, liegt im Länderdreieck mit Pakistan und China. Dort besucht die 18-jährige Tsangyang das Internat. Doch die bergige Region ist im Winter so unzugänglich, dass man den Weg nur zu Fuß absolvieren kann, über steile Pfade und über den Fluss Chaddr. Auch seine älteren Kinder hat der Vater in den Winterferien immer über den Chaddr geführt, doch damals fror der Fluss noch richtig zu. Jetzt bekommt die Familie die Folgen des Klimawandels hautnah zu spüren.
Aus kurzer Distanz
Dennoch hat der Dokumentarfilm von Minsu Park nichts mit der Doku-Reihe „Die gefährlichsten Schulwege der Welt“ gemein, in der stets eine gewisse voyeuristische Spannung aufgebaut wird. Hier geht es vielmehr darum, Lebensverhältnisse in einem entlegenen Winkel der Welt aufzuzeigen, in dem eine einfache Familie so sehr auf die Bildung ihrer Kinder bedacht ist, dass sie dafür mittlerweile ihr Leben aufs Spiel setzt. So dürften auch die Dreharbeiten für den Filmemacher, der auch die Kamera führt, nicht ohne Risiko verlaufen sein. Denn er filmt die Protagonisten aus kurzer Distanz und liefert sich genauso wie sie den Naturgewalten aus.
Der Schulweg ist der rote Faden des Films. Immer wieder wird er von Szenen aus dem Internat und aus dem Dorf der Familie unterbrochen. Das entlastet von dem Bangen um die beiden mutigen Winterwanderer und bringt die Familie, ihr Arbeitsethos und ihren Brotverdienst näher. Im Internat von Leh sieht man Tsangyangs streng geregelten Schulalltag. Dazu gehört ein für Westler kaum nachvollziehbarer Verzicht auf Privatsphäre. Die Schüler schlafen nach Geschlechtern getrennt in überbelegten Schlafräumen mit Doppelstockbetten und Spinden. Rückzugsorte gibt es kaum, und so beobachtet man Szenen, die mehr an das sozialistische China als an Indien erinnern: gemeinschaftliches Zähneputzen oder morgendlicher Massenappell nebst Frühsport.
Doch die jungen Leute schaffen sich Nischen, in denen sie ihre Lebensfreude ausleben: Mit Youtube-Videos als Anleitung entwickeln sie eigene Tanzroutinen.
Erbsen, Bohnen, kleine Teppiche
Tsangyang ist eine gute Schülerin mit ehrgeizigen Zielen. Sie will Software-Ingenieurin werden. Sie weiß, dass dies ohne das Engagement ihrer Eltern nie möglich gewesen wäre. Der Vater ist Dorfschullehrer, doch der Job reicht nicht zum Leben, erst recht nicht fürs Schulgeld. Also bewirtschaften die Eltern zusätzlich ein Feld mit Erbsen und Bohnen, und die Mutter webt kleine, zum Verkauf gedachte Teppiche.
Durch die minutiöse Beobachtung des kargen, entbehrungsreichen Lebens der Eltern vermittelt sich unmittelbar, wie sehr der Klimawandel gerade jene bedroht, die ihn am wenigsten verschulden. Der Lebensunterhalt der Familie hängt direkt vom Wetter ab. Da es kaum noch schneit, gibt es im Frühjahr auch weniger Schmelzwasser für der Felder.
Der Film ist reich an Kontrasten. Denn Schauwerte der prächtigen Himalaja-Berglandschaft vermittelt er durchaus, zuweilen sogar in Panoramaaufnahmen. Umso schwerer fällt es, die äußerlich intakte Natur mit der wachsenden Gefahr für die Bewohner der Region zu assoziieren. Doch Tsangyangs Eltern klagen nicht. Sie schildern die klimatischen Entwicklungen sehr detailreich; sie verschweigen auch nicht, wie sehr sie die Zukunft ängstigt. Kraft findet die Mutter in dieser Hochburg des Buddhismus in Gebeten, die sie vor kleinen Schreinen tätigt. Über ihrem Fernseher hängt ein Bild des Dalai Lama.
Die Folgen des Klimawandels
Dann widmet sich der Film wieder den Strapazen der Wanderung, die Vater und Tochter durch Geröll, Eis und Wasser führt. Im Laufe der mehrtägigen Reise treffen die beiden andere Wanderer sowie Gepäckträger, ähnlich den Sherpas. Einmal übernachten Tsangyang und ihr Vater in einer Höhle, einmal in einer Berghütte. Man versteht die Ängste der Mutter, die nicht mit den beiden kommunizieren kann. Dennoch man ertappt sich auch bei dem naseweisen Gedanken, ob der Besuch im Heimatdorf die halsbrecherische Wanderung entlang von Fluss und Steilhängen überhaupt wert ist.
Auf den Rückweg ins Internat kann Tsangyang kurz vor ihren Abschlussprüfungen allerdings nicht verzichten. Wohl auch, um einmal eine Arbeit in einer wirtlicheren Gegend antreten zu können und womöglich ihre Eltern, die so viel für sie geopfert haben, zu sich zu holen, wenn ihr Dorf nicht mehr bewohnbar sein wird.