Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit
Dokumentarfilm | Deutschland 2020 | 96 Minuten
Regie: Yulia Lokshina
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2020
- Produktionsfirma
- wirFILM
- Regie
- Yulia Lokshina
- Buch
- Yulia Lokshina
- Kamera
- Zeno Legner · Lilli Pongratz
- Schnitt
- Urte Alfs · Yulia Lokshina
- Länge
- 96 Minuten
- Kinostart
- 22.10.2020
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
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Heimkino
Ein dokumentarisches Mosaik über die entwürdigenden Arbeitsverhältnisse in der deutschen Fleischindustrie und den Alltag der unterdrückten Arbeiter aus dem süd-ost-europäischen Raum.
Wenn man aktuell beim Einkauf Zeuge wird, dass beim Metzger nachdrücklich gefragt wird, ob hier denn auch kein „Tönnies-Fleisch“ verkauft wird, dann bedeutet das nicht, dass Yulia Lokshinas Film „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“ dank Covid-19 von der Realität überholt worden ist. Der erfrischend realistische Diplomfilm, zu Jahresbeginn 2020 beim „Festival Max Ophüls“ in Saarbrücken zu Recht prämiert, macht sich keine Illusionen über die Verbesserung von Lebensverhältnissen, indem er einen großen Erzählbogen von den 1920er- bis zu den 2020er-Jahren spannt. Zunächst einmal gilt: Wenn die kleinen Schweinchen auch niedlich in die Kamera blinzeln, bevor es ihnen an den Kragen geht, konzentriert sich Lokshina doch vielmehr auf die Menschen, die hier ausgebeutet werden.
Alles, was die Covid-19-Ausbrüche in Fleischbetrieben im Frühsommer 2020 einer größeren Öffentlichkeit vor Augen und Ohren führten, ist in „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“, längst vorher gedreht, bereits präsent: Die entwürdigenden und ausbeuterischen Arbeits- und Wohnverhältnisse von Arbeitskräften aus dem süd-ost-europäischen Raum, verschleiert durch Werkverträge von Subunternehmern, sodass – Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes – von einem „rechtsfreien Raum“, wie es ein Justiziar der Firma Tönnies hier auf den Punkt bringt, keine Rede sein kann. Vor Ort ist längst klar, dass in Rheda-Wiedenbrück und Umgebung eine Parallelgesellschaft entstanden ist, dass über Integration nachgedacht werden muss.
Gespür für den Zynismus der Verhältnisse
Was damit gemeint ist, zeigt Lokshina mit genauem Blick und einem bemerkenswerten Gespür für einen Zynismus der Verhältnisse, der mitunter lachen macht. Wenn beispielsweise Bilder eines integrativen Sprachkurses gezeigt werden, dem es nicht um Grammatik, sondern ums Sprechen geht. Und wo man lernt, dass man auf die Frage „Wie geht es dir?“ hierzulande antwortet: „Danke, gut!“ Small Talk im Spätkapitalismus. In die Produktion hinein durfte das Filmteam, wenig überraschend, nicht, dafür gibt es aus dem Off ein paar „krasse“ Geschichten über die dort herrschenden Arbeitsbedingungen, wo schon mal Arbeitskräfte zu Hackfleisch würden. So wie seinerzeit geschildert in Upton Sinclairs Reportagen aus den Schlachthöfen Chicagos, die Brecht zu seiner „Heiligen Johanna der Schlachthöfe“ zumindest teilweise inspiriert haben. Um Brecht wird es später noch gehen.
In Rheda-Wiedenbrück heftet sich der Film an die Fersen der Aktivistin Inge Bultschnieder, die als eine Art Streetworker einerseits versucht, die Entrechteten und Verachteten bei Behördengängen und allerlei Formalitäten zu unterstützen, sich andererseits aber auch bemüht, den strukturellen Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse am Laufen zu halten. Dass mit einer Veränderung eher nicht zu rechnen ist, macht das Gespräch mit einer Lokalpolitikerin deutlich, die davon schwadroniert, dass ein Ruck durch die Gesellschaft gehen müsse, dass Fleisch einfach mehr kosten müsse, um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Wer allerdings unter den Bedingungen einer „sozialen Marktwirtschaft“ als Agent dieses Rucks zu denken sei, vermag sie nicht zu sagen. Indes: mit der „Planwirtschaft“ hätten „wir“ ja keine guten Erfahrungen gemacht. Wer soll das alles ändern?
Mit Solidarität ist nicht zu rechnen
Mit den Arbeiterinnen und Arbeitern, so der nächste Schritt, ist diesbezüglich nicht zu rechnen. Der Film besucht ein paar Litauer, die sich auf einem Campingplatz in den Verhältnissen eingerichtet haben. Kein Luxus, aber ein Leben, das mit Actionfilmen, Alkohol und russischer Musik schon auszuhalten ist. Wären da nicht die Rumänen und Bulgaren, die „wie Zigeuner“ sind, auf die man ein Auge haben müsse, wenn einem sein Erspartes wichtig sei.
Mit Solidarität, selbst mit empathischer Aufmerksamkeit unter den Arbeitsmigranten ist nicht zu rechnen, das offenbart der Fall einer jungen Frau, die ihr Neugeborenes in einer Hecke neben dem örtlichen Elektronik-Markt ablegte, weil sie von ihrer Niederkunft überfordert war und schlicht zu isoliert, um Hilfe einzufordern. Nach einem Gefängnisaufenthalt hilft ihr Bultschnieder dabei, ihrem zur Adoption freigegebenen Kind ein Geburtstagspäckchen zu packen.
Brecht ohne Impulse
Einen weiteren Perspektivwechsel erlaubt dann eine Theater-AG am oberbayerischen Gymnasium Neubiberg, die eine Inszenierung von Brechts „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ in Szene setzt. Das ist nicht etwa ein glücklicher Zufall, sondern von der Filmemacherin initiiert. Hier nun gilt es zu bestaunen, welche Distanzen zwischen den unterschiedlichen Lebenswelten zwischen den Schlachthöfen in Nordrhein-Westfalen und dem Gymnasium in Bayern liegen. Brechts Stück handelt von exemplarischen Lernprozessen, die ein engagierter Lehrer nun seinen aufreizend indifferenten Schülern zu vermitteln sucht, wenn er davon spricht, dass hier „ein krass linksradikales, marxistisches Stück“ zur Disposition stehe und er eigentlich auch mal auf Widerworte hoffe. Auch diese Hoffnung wird enttäuscht, aber durch die hilflose Ungeduld des Pädagogen, der alle Antworten auf seine Fragen immer schon gleich selbst liefert, wird deutlich, dass von den gar nicht einmal subtilen Subtexten des Klassikers keine politischen Impulse ausgehen, ja nicht einmal mehr Neugier auf historische Erfahrungen.
Von den drei pädagogischen Praxen, von denen der Film berichtet (Streetworking, Sprachkurs, Theater-AG), überzeugt eigentlich nur Inge Bultschnieder, die unverdrossen gegen Windmühlen kämpft. Und dann ist da noch der Litauer, der wissend grinst, wenn er davon erzählt, dass man eigentlich mal bei „Wiesenhof“ drehen müsste, um an die echt harten Bilder vom Leben der „weißen Nigger“ zu kommen.