Bernadette, einst eine wegweisende Architektin, lebt in einem riesigen, verwahrlosten Haus in Seattle. Sie hat einen gut aussehenden Mann, eine liebenswerte Tochter, die kurz vor dem Schulabschluss steht, und eben dieses Haus, das von Anfang an mehr ist als ein Heim oder eine Wohnstätte. Niemand außer Bernadette würde es fertigbringen, 20 Jahre lang in so einem Haus zu wohnen, einer ehemaligen Schule mit übergroßen Räumen, einer Fassade und einem Treppenhaus, die geradewegs aus Hitchcocks „Psycho“ entliehen sein könnten.
Das Haus passt zu Bernadette wie ein Handschuh zu einer Hand. Sein vollgerümpelter Zustand, seine vielfach übermalten Tapeten, seine drohende Abwehrhaltung gegenüber jedem Besucher und nicht zuletzt das von wilden Brombeerbüschen überwucherte Grundstück beschreiben seine Bewohnerin und deren Seelenzustand, noch ehe man etwas von ihrer Vergangenheit erfahren hat.
Zwischen Komödie und Psychodrama
Nur ein Filmemacher, der sich mit allen seinen Sinnen in einen Stoff vertieft, kann gleich zu Beginn mit wenigen Bildern und Szenen eine Faszination wie in „Bernadette“ schaffen. Richard Linklater hat schon in früheren Filmen, vor allem in „Boyhood“ und „Before Sunset“, bewiesen, dass er genau ein solcher Regisseur ist. Er hat es gewagt, einen so unkonventionell strukturierten Roman wie Maria Semples „Wo steckst du, Bernadette“ auf die Leinwand zu bringen. Verehrer der Vorlage streiten sich jetzt, ob es ihm gelungen ist oder ob er letztlich daran gescheitert ist. Aber keiner wird bestreiten können, dass er dafür eine eigene Bilderwelt erfunden hat und auch einen individuellen, zwischen Komödie und Psychodrama schwankenden Stil, der sich redlich Mühe gibt, dem Roman und seinen Figuren Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Erst relativ spät im Film erfährt man, was Bernadette zu Bernadette gemacht hat: Dass sie als berühmte Architektin einen Schock erlebte, der sie aus der Bahn geworfen hat. Sie zog sich von anderen Menschen zurück, begegnete ihnen sogar feindlich. Mit ihrem Mann, der lange Tage im Büro bei Microsoft verbringt, unterhält sie eine nicht in Frage gestellte, aber wenig intime Beziehung; an ihre Tochter klammert sie sich mit einer liebevollen Anhänglichkeit, die auf Gegenseitigkeit beruht. Der Tochter zuliebe stimmt sie deshalb auch zu, als diese sich zum Schulabschluss eine gemeinsame Reise in die Antarktis wünscht.
An ihrer Kälte prallen alle ab
Schon zu Beginn des Films irritieren Bilder von gigantischen Eisbergen, Formationen wie aus dem Gehirn eines hochbegabten Architekten, obwohl man noch nicht ahnt, welche Bedeutung ihnen zukommt. Für ihre Umwelt muss Bernadette wie ein solcher Eisberg erscheinen; für sie selbst ist es Herausforderung und Erlösung. An ihrer Kälte prallen alle ab, auch die Nachbarin, mit der sie einen verhängnisvollen Streit vom Zaun bricht. Erst die Antarktis ist es dann, die den Bann bricht, der Bernadette zwei Jahrzehnte lang in sich selbst verschlossen hat.
Um zu diesem Ziel zu kommen, bedient sich die Story allerdings eines Abstechers in die Kriminalliteratur, an der sich die Geister scheiden. Die einzige Person, der Bernadette ihre Gedanken und Gefühle anvertraut, ist eine „virtuelle Assistentin“, die sich Manjula nennt. Ihr vertraut sie alle Kleinigkeiten ihres einsiedlerischen Lebens an und bemerkt nicht das Interesse der Software an Dingen, die mehr mit dem Hersteller als mit ihrem aus den Fugen geratenen Dasein zu tun haben. Als eines Tages ein Beamter des FBI vor der Tür steht, ist sie ebenso erstaunt wie der Zuschauer.
In den Händen einer begnadeten Schauspielerin
Linklater hat alle Händevoll zu tun, damit der Film nicht aus dem Gleichgewicht gerät. Aber mit der Hauptdarstellerin Cate Blanchett lassen sich auch solche Hürden überwinden. Von ihrem Talent lebt der ganze Film, und an den Schwachstellen des zweiten Teils zeigt sich, wie sehr diese Bernadette nicht nur ein Kind von Semple und Linklater ist, sondern auch ein Staunen erregendes Erzeugnis schauspielerischer Hingabe. Was an Bernadettes Person zu Anfang noch ein wenig konstruiert wirken mag, wo Situationen und die daraus resultierende Komik mitunter etwas aufgesetzt wirken können, das wandelt sich im Lauf der Handlung immer mehr in eine symbolisch unterfütterte Darstellung der Vereinzelung, der viele Menschen heute nicht mehr entgehen können.
Cate Blanchett erfüllt diese Aufgabe mit bemerkenswerter Einfühlsamkeit und Fantasie. Semples Humor und Linklaters Hang zur Wahrheit gehen in Blanchetts Darstellung eine Symbiose ein, die man auch dann noch bewundern kann, wenn der Film gelegentlich aus den Fugen zu geraten scheint.