Wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht und mit ein wenig Fantasie ausgestattet ist, kann man viel entdecken. Dann wird aus einem Gullydeckel ein Plattenspieler, findet man im Stadtgetümmel überall Pfeile, die einem die Richtung weisen, oder verwandelt sich ein Backstein in einen Briefumschlag, der sich zum Mitnehmen aus der Hauswand löst.
Cleo, die Titelfigur des gleichnamigem Großstadtmärchens von Erik Schmitt, sieht in Berlin immer mehr als das Offensichtliche, das, was alle sehen, also die Häuser und Straßen, den Fernsehturm, das Brandenburger Tor, die Siegessäule und all die vielen Menschen. Schon als Kind hat sie gemeinsam mit ihrem Vater in der Stadt nach Schätzen, Abenteuern und Geheimnissen gesucht. Immer war die Vergangenheit in der Gegenwart präsent, hielt Cleo Zwiesprache mit Albert Einstein, Marlene Dietrich oder Heinrich Schliemann, der ihr von einer sagenhaften Uhr erzählte, mit der man die Zeit zurückdrehen kann.
Eine Schutzmauer ums Herz
Genau das möchte Cleo am liebsten tun. Denn in stillen Momenten sieht sie, wie ihr geliebter, immer zu Späßen aufgelegter Vater seine Frau vermisst, die bei Cleos Geburt in der Nacht des Mauerfalls gestorben ist. Dann verliert Cleo bei einer unterirdischen Schatzsuche auch noch ihren Vater und damit auch ihre Neugier und Offenheit. Das Mädchen baut eine Schutzmauer um sein Herz und versucht irgendwie weiterzuleben.
Erik Schmitt erzählt in seinem Langfilmdebüt eigentlich eine tieftraurige Geschichte von Verlust, Trauer und Schuldgefühlen. Mit Cleo als unglücklicher Heldin, die erwachsen wird, als Stadtführerin arbeitet und „klarkommt“, aber nicht lebt. Die niemanden an sich heran lässt, den Trubel der Stadt ignoriert, nie an die Vergangenheit denkt. Doch das Schwere lastet nicht auf dem Film, denn diese Geschichte wird mit einer schwebenden Leichtigkeit erzählt, die man aus Schmitts Kurzfilmen, vor allem aus „Nashorn aus Galopp“ schon kennt, in dem er die Seele der Stadt erkundete.
Charmante Stop-Motion-Tricks
Viele Ideen und Motive aus diesem Kurzfilm, seine leise Melancholie, die Pfeile oder Videobotschaften, die beispielsweise an Häuserwände projiziert werden, tauchen in „Cleo“ wieder auf und werden dramaturgisch durch Verweise auf die Berliner Geschichte erweitert. Schmitt greift dabei tief in die Kiste charmanter Stop-Motion-Tricks, spielt mit Größenverhältnissen und Perspektiven, was in seinem visuellen Einfallsreichtum an „Science of Sleep – Anleitung zum Träumen“ von Michel Gondry erinnert.
Vor allem zu Beginn von „Cleo“, der von einem staubtrockenen Erzähler mit Schnauzbart und Kassengestell eingeführt wird, schwebt man auf einem nie enden wollenden Bilderteppich durch die Geschichte(n) – bis die erwachsene Cleo, die das kleine Mädchen in sich nie verloren hat, Paul begegnet. Dieser sucht nach verschollenem Diebesgut der Brüder Sass, der legendären Berliner Bankräuber aus den 1920-Jahren. Cleo schließt sich ihm an, weil sie weiß, dass es dort mehr zu finden gibt als Geld und Juwelen.
In der Folge erzählt „Cleo“ die Geschichte einer obskuren Schatzsuche, bei der man einem Panzerknacker mit Holzbein, einer rabiaten Museumswärterin und einer einsamen alten Dame begegnet und die in zwielichtige Spelunken und tief in den Berliner Untergrund führt. Das ist unterhaltsam, verspielt, aber deshalb noch lange kein Kinderfilm, manchmal poetisch, dann auch mit einem Hauch Ironie versehen, aber auch nicht allzu tiefsinnig.
Die Seele der Stadt
Natürlich erzählt „Cleo“ viel über Berlin, seine Geschichte und Geschichten. Vor allem aber geht es um die Geschichte einer Heilung und die einer Liebe, sogar mit einigem Pathos. Doch die Seele der Stadt mit all ihren widersprüchlichen Facetten lässt sich so nicht entdecken. Stattdessen kann man sich im Kino ein wenig davonträumen, dann beschwingt nach Hause gehen und nochmal nachschlagen, wer die Brüder Sass waren oder was es mit dem Fundament des Teufelsbergs auf sich hat. Wer sich mit „Die fabelhafte Welt der Amélie“ gut vertragen hat, wird auch mit Cleo keine Probleme haben.