Dokumentarfilm | Deutschland 2019 | 62 Minuten

Regie: Klaus Stanjek

Nach dem Sturz des deutschen Kaisertums im November 1918 kam es auch in Bayern zu einer politischen Neuorientierung durch revolutionäre Arbeiter- und Soldatenräte, die eine sozialistische Räterepublik etablieren wollten. Der Film rekonstruiert in fünf Kapiteln die Geschichte der Münchner Räterepublik (November 1918-April 1919) von der Gründung unter Kurt Eisner bis zur blutigen Niederschlagung durch Reichswehr und Freikorpsverbände. Der Film nutzt sechs Zeitzeugen-Interviews aus den 1970er-Jahren, die mit Archivaufnahmen kombiniert werden. Darin äußern sich ein Schreiner, ein Kaufmann, ein Berufssoldat, ein Student, ein Buchbinder und der mit Gustav Landauer und Kurt Eisner befreundete Schriftsteller Augustin Souchy über ihre Beobachtungen und Motive. Wohltuend korrigiert der Film die bislang zumeist vorherrschende Sicht auf die Räterepublik aus konservativ-rechtsnationaler Perspektive. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Cinetarium Babelsberg
Regie
Klaus Stanjek
Buch
Klaus Stanjek · Margot Fuchs · Udo Siefken · Silvia Gassmann · Wilhelm Ludwig
Musik
Konstantin Wecker
Länge
62 Minuten
Kinostart
27.06.2019
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Chronologischer Dokumentarfilm über die bayerische Räterepublik, der sich unter anderem auf Zeitzeugen stützt, die in den 1970er-Jahren interviewt wurden.

Diskussion

Als sich 1968/69 die revolutionären Ereignisse in München von 1918/19 jährten, gab gerade die 68er-Bewegung den Ton an. Einige Münchner Studenten machten sich auf die Suche nach Zeitzeugen und trieben tatsächlich sechs ältere Herren auf. Fünf waren an der Revolution beteiligt, zwei Lehrlinge, ein Buchbinder, ein Medizinstudent und der Schriftsteller Augustin Souchy, der sechste Zeitzeuge war ein Freikorps-Mann. Dieses Material, das damals billig und unprofessionell auf Video aufgenommen wurde, ist heute Gold wert. 1989 hat Uli Bez ebenfalls eine Dokumentation über die Münchner Räterepublik mit Zeitzeugen gemacht („Es geht durch die Welt ein Geflüster“), aber da konnte sie nur noch auf Personen mit Kindheitserinnerungen zurückgreifen.

Inzwischen sind die Ereignisse, die in Bayern eine sozialistische Räterepublik installieren wollten, 100 Jahre her. Einer der damaligen Studenten, Klaus Stanjek, hat aus dem alten Material eine Dokumentation gemacht. Sie folgt dem historischen Ablauf der Ereignisse in fünf Abschnitten plus Prolog und Epilog. Im Prolog wird die Entstehungsgeschichte erklärt, im Epilog nach den Motiven und Zielen der Freikorps gefragt, die im Mai 1919 der Räterepublik ein Ende setzten.

Die Regierung muss weg

Am 7. November 1918 fand eine große Protestkundgebung auf der Theresienwiese statt, die den meisten nur als Ort des Oktoberfests bekannt ist. Einer der Redner war Kurt Eisner von der USPD, der offen auszusprechen wagte, was alle dachten: Die amtierende Regierung muss gestürzt werden. Die Zeitzeugen zeichneten ein drastisches Bild der sozialen Lage. Es gab bereits ein Massensterben durch die Hungersnot, und der Hass der Soldaten auf die Offiziere war brandgefährlich. Rund 1000 Arbeiter schlossen sich Eisner an und marschierten zu den Münchner Kasernen. Bei den Soldaten fanden sie offene Ohren, und eine Kaserne nach der anderen lief über.

Schon am Abend fand im Mathäser-Bierkeller die Gründung von Arbeiter- und Soldatenräten statt. Am nächsten Tag, dem 8. November 1918, wurde auf dem Oberwiesenfeld der Freistaat Bayern ausgerufen. Rasch bildeten sich in ganz Bayern Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte, ohne dass ein einziger Schuss gefallen wäre. Es gab sofort weitrechende Reformen wie allgemeines und gleiches Wahlrecht, Frauenwahlrecht, Acht-Stunden-Tag, Bildungsreform und vieles mehr. Die Kriegsgefangenen wurden freigelassen.

Anfangs wurde erstaunlich wenig Widerstand laut, nur Royalisten, Großbauern und die Kirchen protestierten. Eisner wurde zum Übergangs-Ministerpräsident gewählt, doch nach der Wahlniederlage der USPD am 12. Januar 1919 wollte er zurücktreten. Die Ermordung Eisners, der bereits seine Rücktrittsrede in der Tasche hatte, am 21. Februar 1919 auf dem Weg zur konstituierenden Sitzung des bayerischen Landtags wurde von einem der Zeitzeugen im Film gesehen. Ein Wachmann konnte zwar den Täter, Anton Graf von Arco auf Valley, überwältigen, doch Eisner war sofort tot. Die Zeitzeugen schildern den Tod Eisners als einschneidendes Ereignis, das die gesamte Öffentlichkeit erschütterte.

Mehr Macht den Räten

Kein Königsbegräbnis hat eine vergleichbare Menschenmasse mobilisiert wie die Beerdigung von Kurt Eisner. Es gab sofort Postkarten vom Tatort, der mit Kränzen überhäuft war. Unter den Räten erhielt die Forderung nach mehr Macht zum Schutz der Revolution großen Auftrieb. Die sich findende sozialdemokratische Minderheitsregierung unter Johannes Hoffmann lehnte eine Teilung der Macht mit den Räten aber ab und wich nach Bamberg aus. Die zentrale Frage einer Regierungsform wurde so nicht ausdiskutiert: nur Parlament oder ein Parlament mit den Räten als zweiter Kammer oder nur eine Räterepublik. So kam es zur Spaltung: Räterepublik in München, Parlament in Bamberg.

Die Führer der ersten Räterepublik waren Literaten, Künstler, Freigeister. Sie hatten die Macht, aber wollten jede Gewalt vermeiden. Großindustrie und Großbauern sollten enteignet werden, aber alles nur per Dekret. Die Widerstände wuchsen. Dem Schriftsteller Ernst Toller gelang es mit der Roten Garde, die Freikorps bei Dachau zu schlagen. Ein Beteiligter wunderte sich, dass Toller „die (200) Gefangenen wieder laufen“ hat lassen.

Nach einem Putsch der Kommunisten wurde die zweite Räterepublik von Freikorps im Mai 1919 niedergeschlagen. Was man aus den Quellen weiß, wird von den Zeitzeugen drastisch belegt: es war ein fünftägiges Massaker, bei dem auch viele völlig Unbeteiligte zu Tode kamen.

Danach wurde Bayern zur Ordnungszelle. Was für Münchner interessant wäre, wie viele historische Schauplätze man sich damals noch von Zeitzeugen hätte zeigen lassen können, ist heute alles weggentrifiziert.

Mit Gott für König und Vaterland

„Rote Räte“ stellt eine Querverbindung zwischen den Ereignissen und den Motiven der Zeitzeugen her. Der porträtierte Freikorps-Mann war kein typischer Proto-Nazi, sondern ein royalistischer Gymnasiast, der, wie er selbstkritisch bemerkt, keine anderen Werte kannte als „Mit Gott für König und Vaterland“. Politik war in seinem Vaterhaus tabu. Man war Royalist, das reichte. Der Medizinstudent kam vom sozialistischen Studentenbund und vom Wandervogel. Unter diesen jungen Leuten wurde nur über die politische Zukunft diskutiert. Ernst Bloch und Eugen Roth waren die Bekanntesten unter ihnen. Sein eigenes Elternhaus, bemerkt er, stand 200 Jahre immer auf der Seite der Demokraten.

Augustin Souchy, der linksanarchistische Schriftsteller, hebt vor allem auf den Umstand ab, dass das als konservativ verschriene Bayern eine erfolgreiche Revolution zustande gebracht hat. Das Land war katholisch, aber nicht preußisch. Der König machte am Tag der Revolution seinen üblichen Spaziergang. Dabei begegnet ihm ein Bürger: „Majestät, gengas hoam, s’is Revolution.“ Und der König dankte ab. Die bürgerliche Revolution konnte gelingen, aber ihre Fortführung zur sozialen Revolution scheiterte. Kurt Landauer, bemerkt Souchy zu Recht, hat in der einen Woche, in der er Kultusminister war, mehr für das bayerische Bildungswesen getan, als je zuvor dafür getan wurde.

Eine wohltuende Korrektur

Was bei den Zeitzeugen in „Rote Räte“ sehr klar herauskommt, ist die Rolle der Thule-Gesellschaft, die hinter jedem rechten Putschversuch und hinter jeder rechten Propaganda auffindbar ist. Dass deren Mitglieder schließlich verhaftet wurden, ist kein Wunder. In den letzten Tagen der Räterepublik wurden sie erschossen, was das einzige Massaker ist, das man der Räterepublik vorwerfen kann.

„Rote Räte“ ist ein wichtiger Film, weil er eine vorherrschende Geschichtsschreibung korrigiert, die in Bayern seit 100 Jahren kultiviert wird.

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