Bildgewaltige Dokumentation über den Extremkletterer Alex Honnold und seine Besteigung der El-Capitan-Steilwand im Yosemite National Park in Kalifornien, die sich zur Eloge aufs Kino weitet.
Für jemanden, der es in seiner Jugend gerade mal geschafft hat, den Wilden Kaiser zu besteigen, ist der Film „Free Solo“ eine Mahnung zur Bescheidenheit – und ein Aufruf zur Bewunderung menschlicher Leistungsfähigkeit zugleich. Wie ein Realität gewordener Spider-Man klebt ein 33-jähriger Kletterer an einer der gefährlichsten Steilwände der Welt – ohne Seile, Haken oder irgendwelche Hilfsmittel. Mit seinen Fingern ertastet er kleinste Felsvorsprünge und kaum sichtbare Spalten, mit den Spitzen seiner Füße sucht er Halt, wo normale Menschen ihn nicht einmal ahnen könnten.
Alex Honnold ist kein „normaler Mensch“. Schon als Kind mit einem unverkennbaren Hang zur Perfektion ausgestattet, ist er zu einem Athleten herangewachsen, der auch jene Schwierigkeiten meistert, an die sich gewöhnliche Bergsteiger nicht heranwagen. Dass „alle, die Free Climbing zu einem wichtigen Teil ihres Lebens gemacht haben, heute tot sind“, wie es im Film einmal heißt, schreckt ihn so wenig ab wie die Einschätzung durch seine Umwelt, dass er ein introvertierter Einsiedler sei. Honnold ist sehr viel mehr als das. Er ist nachdenklich, selbstkritisch, auch ein bisschen fatalistisch. Vor allem aber ist er ein Perfektionist.
Der Kletterer als in sich gekehrter Mensch
Der Film von Elizabeth Chai Vasarhelyi und Jimmy Chin bringt all das zum Ausdruck. Auch wenn es primär darum geht, wie Honnold die rund 1.000 Meter hohe Wand des mächtigen El Capitan im Yosemite National Park in Kalifornien erklettert, beschäftigen sich die beiden ebenfalls im Klettersport versierten Filmemacher mindestens so ausführlich mit dem Menschen Alex Honnold und seinen Motivationen.
So sensationell Honnolds Leistung auch ist und so händeringend jeder hinter den Kameras oder im Dunkel des Kinos daran Anteil nimmt, so sehr vernachlässigt „Free Solo“ nicht den Blick auf das Innenleben dieses „übermenschlichen“ Bergkletterers. Stets bleibt erkennbar, was in den Momenten höchster Konzentration und in die Tat umgesetzter Kalkulationen einen Menschen bewegt, der sein Leben aufs Spiel setzt, um eine Leistung zu erbringen, die seinen Mitmenschen verweigert ist: Probleme zu lösen, Furcht zu überwinden und den Tod zu überlisten.
Als besonderer Glücksfall erweist sich dabei die Gegenwart von Honnolds Freundin Sanni. In ihr repräsentiert sich sozusagen der „normale Mensch“, der im Kino die Luft anhält und gleichzeitig nach Erklärungen sucht für diesen 33-Jährigen, der unter normalen Umständen längst nicht mehr am Leben wäre. Die aufmerksamen Sequenzen, die dem Zusammensein von Honnold mit seiner Freundin gewidmet sind, stellen nicht nur Atempausen, sondern wichtige narrative Abstecher dar, die einen immanenten Erklärungsnotstand beseitigen.
Die ethische Fragwürdigkeit schwingt immer mit
Wie die besten Dokumentarfilme beschreibt „Free Solo“ nicht nur die Tat, sondern auch das Innere des Menschen, aus dessen Wesen die Tat geboren wird. Obwohl die Filmemacher es nur selten artikulieren, schwingt die ethische Fragwürdigkeit eines Kletterstils, der auf alle lebenserhaltenden Sicherungen verzichtet, ständig mit.
Wenn jemals ein Film gemacht worden ist, der sich in seiner ganzen Dimension nur auf einer großen Leinwand erschließt, dann ist das „Free Solo“. Ihn in einem IMAX-Kino zu sehen, ist ein Erlebnis, das den Zuschauer Teil eines Abenteuers werden lässt, das alle manipulierten Abenteuer des Marvel-Zeitalters in den Schatten stellt. Beabsichtigt oder nicht, formuliert „Free Solo“ auch eine Eloge auf die Einzigartigkeit des Kinos.