Die Zollbeamtin Tina ist ein Seismograf in „Menschengestalt“. Am schwedischen Hafen-Terminal leistet ihr animalischer Sinnesapparat zuverlässige Dienste. Wenn Tinas Nasenflügel sich weiten, ihre Oberlippe nervös zu zucken beginnt, sind das Alarmsignale. Dann ist es angebracht, etwas gründlicher in die Taschen der Passagiere zu blicken, die mit der Fähre aus Dänemark ankommen. Mal wittert sie eine geschmuggelte Schnapsflasche, mal erschnüffelt sie an einem Handy eine verdächtige Sim-Karte, auf der sich kinderpornografisches Material findet. Nach ihren außergewöhnlichen Instinkten befragt, antwortet Tina: „Ich spüre so was. Scham, Schuld, Wut.“
Tina, die Protagonistin des spektakulären Genre-Hybrids „Border“, ist eine, milde ausgedrückt, irritierende Erscheinung. Ihre Physiognomie wirkt seltsam verschoben und erschreckt durch ihren groben, stumpfen Ausdruck. Die ausgeprägte Stirnwölbung lässt sie wie eine späte Nachfahrin der Neandertaler erscheinen, die Nase ist knollig, die Haut wirkt ledern; ihr meist offen stehender Mund entblößt gelbe, faulig aussehende Zähne.
Eine Begegnung mit dem Anderen
In der stattlichen Uniform wirken die Deformationen – der medizinische Terminus lautet „Chromosemenveränderung“ – erst recht ausgestellt. Dass die Begegnung mit Tina auch eine Begegnung mit den eigenen Abwehrreflexen ist, gehört zum filmischen Konzept von „Border“. Regisseur Ali Abbasi provoziert mit seiner radikal andersartigen Heldin gezielt Fragen nach Normalität und Schönheit.
In der Landschaft der Schären, wo sie in platonischer Beziehung mit einem schmarotzenden Kampfhundehalter lebt, ist Tina ein anderer Mensch – oder anders gesagt: dem oder der näher, was sie eigentlich ist. Sie berührt die Bäume, atmet die Luft in tiefen Zügen ein; sie liebt es, barfuß über das Moos zu gehen und nackt im Waldsee zu baden. Rehe wie Füchse sind ihr zugetan. Früher habe sie geglaubt, dass in den Schären Elfen tanzen, erzählt sie. Zu diesem Zeitpunkt ist die skandinavische Mythologie im Film noch reine Fiktion. Das bleibt aber nicht lange so.
In Finnland soll es noch mehr von ihnen geben
Der iranisch-schwedische Filmemacher Abbasi entfaltet in seinem auf John Ajvide Lindqvists Geschichtensammlung „Gräns“ basierendem Film zwei zunächst voneinander unabhängige Erzählstränge, die beide ihren Anfang an der Zollgrenze nehmen. Dank ihres „Riechers“ wird Tina in die Ermittlungen um einen Pädophilen-Ring miteinbezogen, auf dessen Spur sie die Polizei gebracht hat. Gleichzeitig macht sie die Bekanntschaft mit Vore, einem Mann, der mit einem Brutapparat für Larven die Grenze passiert und sich nicht nur durch seine äußere Erscheinung als Wesensverwandter entpuppt. Irgendwo in Finnland, weiß Vore, soll es noch mehr von ihnen – den Trollen – geben.
Durch Vore entdeckt Tina allmählich ihr Troll-Sein; es ist eine lustvolle, befreiende Erfahrung, die auch den Film affiziert. „Border“ erzählt auch eine große Liebesgeschichte, in der das gegenseitige „Erkannt werden“ noch einmal eine ganz andere Bedeutung bekommt. Abbasi widmet sich dabei sowohl den rohen wie auch zärtlichen Anteilen dieser Liebe, wenn er in einer tief anrührenden Szene zeigt, wie Vore und Tina nackt durch den Wald rennen und dann im See ein gemeinsames Bad nehmen. Oder wenn sie sich bei einem Gewitter wie verschreckte Tiere eng aneinanderklammern. Das neue Glück trägt aber auch animalische Züge, etwa beim monströsen Sex. Die Troll-Identität führt zudem zu einem Abbau des Sprachlichen. Immer öfter verschafft sich Tina durch Knurren, Schnauben und gefährliches Bellen Gehör. Da verstummen sogar die Pitbulls.
Im Unterschied zu Tina hat ihr neuer Gefährte die domestizierenden Anpassungen an das Menschsein gänzlich abgelegt. Er verschlingt Berge von rohem Lachs mit bloßen Händen, wenn er nicht gerade Maden und Würmer isst, die er frisch von Baumstämmen pult. Auch sieht er sich und seinesgleichen als Übermenschen oder vielmehr als Über-Nichtmenschen. Seine Erfahrungen mit „human supremacy“ – die Troll-Eltern wurden zu wissenschaftlichen Experimenten missbraucht – haben aus ihm einen überzeugten Rassisten gemacht.
Gegen identitäre Reinheit
Die titelgebende Grenze ist im Film weniger geografisch gemeint. Sie verläuft vielmehr zwischen den Arten – Mensch, Nicht-Mensch, Tier – und den Geschlechtern. Sowohl Tina als auch Vore sind Zwitterwesen. In einer spektakulären Szene, die den Begriff „wilder Sex“ auf ein komplett neues Level hebt, fallen die beiden Trolle übereinander her. Tina wächst dabei ein Penis, mit dem sie den phalluslosen Vore mit urschreiartigem Gebrüll penetriert. „Border“ passiert aber auch als Film Grenzen: vom sozialen Realismus zu Fantasy und nordischer Folkore. Die Inszenierung arbeitet dabei gezielt gegen generische Reinheit; der Film ist wie seine Heldin – zutiefst zwitterhaft.
Unter der Oberfläche des Krimiplots, in dem beide Stränge zusammenfinden, lassen sich unschwer Anklänge an die aktuellen gesellschaftlichen Debatten um Identität, Ausgrenzung und Rassismus finden. Dabei gehen Fiktion und Realität glücklicherweise nie allegorisch im jeweils anderen auf, auch deshalb, weil Abbasi gegen Ende des Films die Erzählung weiter ins Genrekino hineintreibt. Dann kommen Trollbabys, die im Kühlschrank gelagert und mit zermanschten Maden gefüttert werden, ins Spiel.
Die tribalistische Erzählung, auf die „Border“ lange zusteuert, wird durch Tina gebrochen. Sie beantwortet die Frage, was einen Menschen ausmacht, nicht identitär oder essentialistisch, sondern durch das Handeln: Tun, was niemandem schadet. Das Menschsein ist eine freie Wahl.