Eine Traumnovelle, ein filmischer Bewusstseinsstrom. Wie der gleichnamige Roman von Arthur Schnitzler folgt auch der zweite Spielfilm des jungen ungarischen Regisseurs László Nemes (hier ein Interview zum Film) einer jungen Frau aus besseren Kreisen durch einen phantasmagorischen Taumel zwischen Wirklichkeit und Wahn, sozialem Druck und innerem Instinkt. Die Protagonistin ist ebenso Handelnde wie Getriebene; ihr Weg durch Österreich-Ungarn kurz vor dem Ersten Weltkrieg scheint ständig an Tempo und Intensität zu gewinnen. Außerdem reißt die großartig choreografierte, souverän inszenierte Achterbahnfahrt durch die Kulissen der Kulturgeschichte das Publikum aus der Komfortzone der Erzählstandards.
Der titelgebende Sonnenuntergang ereignet sich gleich zu Beginn. Noch bevor der Film richtig anfängt, sieht man ein spätimpressionistisches Gemälde. Es zeigt eine prachtvolle Straßenecke im Stil der Belle Époque. Langsam verfärbt es sich vom hellen Mittagsblau in ein warmes Abendrot, bis das Bild komplett nachtschwarz wird. Dann erscheint der Titel. Dass dieser auch metaphorisch gemeint ist, macht die folgende Inschrift unzweideutig klar. Sie setzt mit „Budapest im Jahr 1913“ Zeit und Ort und verweist darauf, dass 1913 die ungarische Hauptstadt zur zweitwichtigsten Metropole des kaiserlich-königlichen Habsburgerreichs aufgestiegen und damit Schwester und Rivalin Wiens geworden sei.
Als in Europa die Lichter ausgingen
Dies setzt von Beginn an gewisse Erwartungen: „Sunset“ und die Nacht, die in den ersten Sekunden anbricht, muss auch den Zusammenbruch des alten Europa meinen, jenen Moment, als „die Lichter ausgingen“, wie ein berühmtes Zitat den Ausbruch des Ersten Weltkriegs charakterisiert. Fünf Jahre später wird der Weltkrieg verloren und das Habsburgerreich durch Revolutionen hinweggefegt sein; die Monarchie und mit ihr die Dynastie existiert nach fast 1000 Jahren nicht mehr.
Von Anfang an liegt daher bei aller Schönheit kaum etwas Idyllisches, eher eine bedrohliche Stimmung und die Ahnung bevorstehender Umbrüche über allem. Geheimnis und Nervosität hängen in der Luft. Fast alles ist hier unsicher.
Es beginnt mit schönen, auf angenehme Weise rätselhaften Bildern: „Lüften wir den Schleier“, sagt eine weibliche Stimme, und man sieht minutenlang die Großaufnahme einer jungen Frau. Sie ist in einem Hutkaufhaus, dem „Kaufhaus Leiter“, offenbar das erste Haus am Platz, und probiert Hüte aus, scheint aber mit den Gedanken woanders, in der Ferne zu schweifen, sehnsuchtsvoll und abgelenkt. „Ich bin wegen der Stelle gekommen“, sagt sie, und wird Zelma vorgestellt, einer Art Oberaufseherin über die Angestellten. Im Gespräch stellt sich heraus, dass die junge Frau Irisz Leiter heißt und die Tochter des Gründerehepaares ist, das vor vielen Jahren bei einem mysteriösen Brand ums Leben kam. Bald erfährt Irisz auch von einem Bruder, von dem sie bisher nichts wusste. Dieser scheint als Anarchist im Untergrund die Weltrevolution herbeizubomben.
Eine Bedrohung für das Schweigekartell
Irisz erhält zunächst keine Anstellung. Man begegnet ihr keineswegs mit offenen Armen, eher mit Abneigung und Misstrauen. Etwas Unterschwelliges erfüllt die Atmosphäre; eine Unerbittlichkeit und etwas Bedrohliches stehen im Raum. Unterschwellig scheint Barbarei präsent; schon hier erfasst Nemes, der das Drehbuch gemeinsam mit der französischen Co-Autorin Clara Royer schrieb, sehr präzise den Zeitgeist um die Jahrhundertwende; gleichzeitig ist „Sunset“ aber auch unübersehbar eine Bestandsaufnahme der Gegenwart.
Irisz scheint für das Schweigekartell, das hier dominiert – ein Einverständnis, nicht über das zu sprechen, was offenbar passiert – eine Bedrohung zu sein. Das Kaufhaus erinnert damit an das „Schloß“ aus Kafkas gleichnamigem Roman, und Irisz an Kafkas Helden K. Wie dieser wird auch Irisz nicht locker lassen, sie wird hartnäckig um das Kaufhaus kreisen, Präsenz zeigen, und im Laufe des Films ihren Einlass erzwingen. Sie will den Weg, der ihr vorbestimmt zu sein scheint, zu Ende gehen. Sie wird dabei auf ihren Bruder treffen, geheimnisvollen Menschen und seltsamen Ritualen begegnen, Verrückten und Autoritären, Gewalt und einer hysterischen Gesellschaft. Irisz wirkt fragil und verwundbar, zunehmend aber auch entschlossener. Als ob sie wüsste, dass es kein Zurück geben kann.
Die bislang unbekannte Juli Jakab spielt jene Irisz, mit einem wahnwitzig zu nennenden Mut und einer Konsequenz und Virtuosität, die jede Schwierigkeit meistert. Jakab lächelt wenig. Ihre großen, weit geöffneten Augen scheinen diese Welt zu durchdringen und auf den Grund der Dinge zu blicken, der sich als Abgrund entpuppt.
Irisz im k.u.k-Wunderland
Etwas Surreales geht von ihrer Figur aus, die eine Alice im k.-u.-k.-Wunderland ist, was den Schluss nahelegt, dass Irisz wie alles andere nicht (abbild-)realistisch zu verstehen ist. Die Figuren in „Sunset“ gleichen eher Geistern und sind Ideenträger. Sie stehen für Klassen, Haltungen, Lebensweisen. Irisz ist eine Projektionsfläche, aber auch eine ewige Wanderin. Der Weltgeist? Wenn sie die Kleidung wechselt und gegen Ende des Films wie ein Junge aussieht oder wie eine Anarchistin und in der letzten Szene des Films in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs auftaucht, könnte man dieser Ansicht sein.
Irisz flaniert durch einen Parcours, der mit Versatzstücken der Kulturgeschichte bestückt ist: das Kaufhaus, der Boulevard, der Massenaufmarsch, das Treffen mit der Gräfin, der Empfang der Oberschichten, der Unterschlupf der Anarchisten, die Viertel der Unterschichten, das Siechenhaus, der Besuch des Erzherzöge, die Fahrt zum Hof nach Wien, die revolutionären Unruhen, der Weltkrieg. Die Realität in diesem Film ist keine organische Einheit und darum auch nicht interpretierbar und verstehbar. Es ist das Eindringen der Kontingenz, das verstört und schockiert; deren Fluss scheint der gesamten Fiktion ihre Logik aufzuzwingen. Um diese Kontingenzerfahrung geht es vor allem.
„Sunset“ ist ein Kunstwerk wie in Trance; Intensitätssteigerungskino, gedreht auf 35mm und in der bereits in „Son of Saul“ bisweilen als „Künstlichkeit“ kritisierten eigensinnigen Ästhetik. László Nemes vollzieht willentlich den Bruch mit den visuellen Konventionen. Er überträgt die ästhetische Methode seines KZ-Dramas „Son of Saul“ auf eine andere Welt. Mit minutenlangen Einstellungen. Einer intensiven, schwebenden, rastlosen Kamera (Mátyás Erdély), die der Hauptfigur konstant auf den Fersen klebt, sie nicht aus dem Auge lässt. Wieder das atemlose, permanent bewegte Mäandern in Großaufnahmen und bestenfalls Halbtotalen; es gibt nie eine Totale, nie einen Überblick oder eine Orientierung, immer enge Rahmen, Desorientierung. Das alles noch verdoppelt durch eine oft überlaute Tonspur, eine mitunter atonale Musik, Dialoge, die nur in Fetzen dargeboten werden, abbrechen, unvollendet bleiben, keine Informationen liefern, sondern desinformieren, oft zu geheimnisvollem Flüstern und Murmeln werden, und damit den Eindruck des Irrealen und Paranoiden verstärken.
Der Vorschein kommender Dinge
Der sehr besondere Taumel, in den man durch das alles hineingezogen wird, ist der Taumel eines Tanzes auf dem Vulkan, des labilen, von inneren Konflikten geschüttelten Europas im Jahr 1913, das erst im Rückblick als ein Vorkriegs-Europa sichtbar wird. So zeigt der Film eine überaus zivilisierte, liberale Welt, die unter einem kaum greifbaren Schmerz leidet, der keinen realen Grund hat, sondern mehr einem Überdruss entspringt. Ein Rückzug in Fatalismus und Schicksalsergebenheit verbindet sich mit der Sehnsucht, aus diesem ungreifbaren Druck ausbrechen zu können.
Es war die Stunde der Selbstzerstörung Europas. Es ist die Welt vor der Vernichtung. Ähnlich wie „Das weiße Band“ von Michael Haneke kann man „Sunset“ als Prequel zu „Son of Saul“, also zur Shoah, begreifen. „Sunset“ zielt allerdings auf die Parallelen zur heutigen Zeit und einer europäischen Öffentlichkeit zwischen Demagogie, universalem Wahrheitszweifel und einer Sehnsucht nach (zu) einfachen Sicherheiten. Der Vorschein kommender Dinge, die dunkle Ahnung von unglaublichen Ereignissen, die sich niemand vorstellen konnte, die dann aber geschahen und das Bestehende erschütterten, erfüllt dieses visuelle Abenteuer und verbindet es mit der Gegenwart.
Die Handlung mit ihrer Entfesselung des Chaos hat aber noch andere Aspekte. Denn dieser Paranoia-Thriller ist mit Zitaten aus dem Fin de Siècle und der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts gepflastert: T.S.Eliots „The Waste Land“ wird zitiert, Irisz wirkt wie eine Schwester von Fanny zu Reventlow, und neben Kafka, Schnitzler und Musil ist der Film offenkundig auch von Frank Wedekinds Novelle „Mine-Haha oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen“ aus dem Jahr 1903 inspiriert. Dieser Text wurde in „Innocence“ (2004) bereits von Französin Lucile Hadzihalilovic verfilmt; hier liefert er Ideen. Wie die von dem Mädchen, das „auserwählt“ und dann einem dekadenten Hof zugeführt wird. „Das Grauen der Welt verbirgt sich hinter diesen unglaublich schönen Dingen“, sagt jemand zu Irisz.
Die „Welt von Gestern“ (Stefan Zweig) ersteht hier nicht in historischer Korrektheit, sondern eher als kubistisch dekonstruiertes labyrinthisches Stationendrama, das die Vergangenheit aus ihrem Schneewittchensarg reißt und entfesselt. „Sunset“ ist vor allem ein Werk des Fantastischen Kinos, ein formal großartiger Paranoia-Thriller, unerschöpflich in seinen Anregungen und produktiven Irritationen, ein Film, der noch viele Stunden in den Köpfen der Betrachter weitergärt.