Langsam, aber dafür gewaltig kommt der Horror hier zur Sache, schleicht sich heran, dringt ein in die Verhältnisse. In einem gewissen Sinn aber ist er schon immer da, in diesem Film und bei seinen Figuren. Die Tonspur ist besonders wichtig hier, darin dräut und dröhnt es von Anfang an, noch bevor die ersten Bilder zu sehen sind, und lässt keinen Zweifel, dass Schlimmes bevorsteht.
Totalen eines wolkenverhangenen, schneebedeckten Gebirges eröffnen den Film. Auch der Himmel ist weiß, man meint die Kälte ganz plastisch zu spüren. Eine Frau schleppt sich zu Fuß durch den hohen Schnee, bergauf. Hinter sich zieht sie einen Schlitten. Dann begegnet sie einem Bekannten. Die Menschen sprechen Dialekt, haben Furcht vor der Dunkelheit, und auch sonst ist der Aberglauben in ihren knappen Gesprächen ständig präsent. An ihrer Kleidung sieht man, dass alles in einem früheren Jahrhundert spielt, in der frühen Neuzeit vermutlich.
Die Menschen, die man zunächst näher kennenlernt, sind eine Mutter und ihre Tochter Albrun. Sie sind Ziegenhirten und leben in diesen Alpenwäldern in einer abgeschiedenen Hütte. Unter den Bewohnern der Gegend sind sie geächtet; sie werden gemieden, weil man sie für Hexen hält. Dann stirbt die Mutter an der Pest. Das junge Mädchen lebt allein, und 20 Jahre später setzt die Handlung ein: Albrun hat nun selber eine neugeborene Tochter.
Von der Dorfgemeinschaft wird sie noch immer ausgeschlossen, einige wenige Menschen sind freundlich zu ihr, aber meist, um ihre vermeintlichen Kräfte zu nutzen. Als Hexe ist sie ungeschützt den Hänseleien der Kinder ausgesetzt, aber auch den sexuellen Attacken der Männer. Einmal wird sie vergewaltigt, und da der Vater ihrer Tochter unbekannt ist, legt der Film auch hier eine Vergewaltigung als Ursache nahe.
Den größten Teil des Films folgt man Leben, Leiden und Paranoia dieser jungen Frau – es ist eine Passionsgeschichte, deren Treibstoff innerem wie äußerem Wahn entspringt. Die ohnehin labile Albrun verliert mehr und mehr ihr inneres Gleichgewicht. Die „Realität“ in diesem Film ist immer fragwürdig und zur Disposition gestellt: Ist die Dorfbevölkerung tatsächlich eine Bedrohung, wie die Filmbilder nahelegen? Oder ist diese Bedrohung nur von einer hysterischen, übersensiblen Frau konstruiert? Sehen wir auf der Leinwand Objektives oder vor allem Albruns innere Sicht? Aus solchen Fragen und Zweifeln am Sichtbaren wird dieser Horrorthriller angetrieben.
Daneben stehen die sozialen Verhältnisse, vor allem die Macht der Kirche. Denn sie ist es, die die Vorurteile der Bevölkerung gegen die Andere und das vermeintlich abweichende Verhalten Albruns schürt. In Zeiten der Not, der Wut und der Verzweiflung brauchen die Mächtigen Angst, damit sich diese Wut nicht gegen sie selbst richtet. Und in einer Kultur der Angst braucht man Sündenböcke. Wie Wahn und Hexerei, und auch die Überzeugung von Frauen selbst, dass sie Hexen seien, aus sozialen Verhältnissen geboren werden, wie die Angst auf das schwächste Glied übertragen wird, zeigt „Hagazussa“ (das Wort bedeutet „Hexe“ im Althochdeutschen) so handwerklich glänzend wie inhaltlich zwingend. Selbst Albrun leistet diese Übertragung – noch schwächer als sie ist nur ihre kleine Tochter.
Großes Kino wird der Film, weil er sinnlich stark und ästhetisch zwingend ist, weil es ihm gelingt, mit einem Minimum an Dialogen und dafür einer Fülle sinnlicher Eindrücke zu erzählen. Gerade das macht ihn aber auch nicht ganz leicht zu ertragen: Der Horror, der hier entfaltet wird, ist keiner des Schocks oder des Grauens, sondern einer des Ekels. Regie führte der Österreicher Lukas Feigelfeld, der zurzeit an der Berliner DFFB studiert und seinen Film in über vierjähriger Arbeit mit sehr knappen Mitteln und hohem persönlichen Einsatz entwickelt hat. Daneben verdankt der Film vor allem seiner Kamerafrau, der Mexikanerin Mariel Baqueiro, überaus viel. Vielleicht ist es dieser Blick einer Frau aus einem ganz anderen Kulturkreis, der dem Heimat- und Bergfilm hier neues Leben einhaucht – sind diese Genres doch in Deutschland visuell abgenutzt und durch folkloristische Klischees und übles „Blut und Boden“-Erbe politisch und kulturell kontaminiert.
„Hagazussa – Der Hexenfluch“ ist eine Entdeckung. Ein Indie-Film aus Deutschland, der viele Verdienste hat. Zum einen, dass er überhaupt das Genre des Horrorfilms, und hier die selten zu sehende Hexenmotivik aufgreift. Dass er sie kreativ auf die Leinwand bringt und zu einem im deutschen Sprachraum einmaligen Stück Kino weiterentwickelt. Dass es ihm gelingt, das Genre mit Einflüssen des Autorenkinos in seiner minimalistischen Erzähltradition zu verbinden. Und en passant leistet „Hagazussa“ auch einen Beitrag zum aufs Neue modisch werdenden Diskurs über „Heimat“ und scheinbar einfach zu klärenden Identitätsfragen. Schon in Klassikern wie „Geierwally“ (fd 47), erst recht in alternativen Heimatfilmen à la „Jaider - der einsame Jäger“
(fd 17 401) ist Heimat ein alles andere als heimeliger Ort. Im Gegenteil kann gerade hier das scheinbar Vertrauteste noch unvertraut, zum Ort des Grauens und zum Mittel der Repression werden. Christentum, Tradition, Familie, Weiblichkeit, Natur – es sind gerade die mit diesen Begriffen verknüpften Mythen und Ideen, die „Hagazussa“ gnadenlos dekonstruiert und fragwürdig macht. Damit ist dies ein Film, der sich wie wenige deutsche Filme auf der Höhe der Zeit befindet.