„All the Money in the World“, so der Originaltitel des Entführungsdramas von Ridley Scott, wurde schon Teil der Filmgeschichte, ehe der Film seine Premiere feierte. Kevin Spacey hatte darin als Hauptdarsteller vor der Kamera gestanden, als sich der Regisseur dazu entschloss, 22 Szenen des fertigen Films neu zu drehen, um den wegen des Vorwurfs sexueller Übergriffe in Ungnade gefallenen Schauspieler durch Christopher Plummer zu ersetzen. Nur wenige Auserwählte kennen die ursprüngliche Fassung. Und der 88-jährige Plummer macht seine Sache so gut, dass man sich Spacey in der Rolle des alten Milliardärs J. Paul Getty gar nicht mehr vorstellen kann.
Nicht mehr vorstellen kann man sich fortan auch, dass die letzten Lebensjahre des „reichsten Mannes der Weltgeschichte“ in Details anders ausgesehen haben mögen, als Scott sie beschreibt. Wichtig ist dabei die Tatsache, dass der nur wenige Tage vor der Premiere mit dieser anspruchsvollen Partie konfrontierte Christopher Plummer eine Figur auf der Leinwand verkörpert, die noch lange gegenwärtig bleiben wird.
Wer alt genug ist, erinnert sich wahrscheinlich an die Entführungsgeschichte des 16-jährigen Getty-Enkels John Paul Getty III. im Jahr 1973, ein Kidnapper-Drama, das damals wochenlang die Boulevardzeitungen beherrschte und überall die Gemüter erregte, weil der schwerreiche Ölmagnat sich weigerte, das geforderte Lösegeld zu zahlen. Der junge Getty war auf den nächtlichen Straßen von Rom überfallen und entführt worden. Die Entführer glaubten, leichtes Spiel zu haben, denn was sind 17 Millionen Dollar Lösegeld schon für einen Mann, der Milliarden sein eigen nennt?
Sie hatten die Rechnung aber ohne den geizigen alten Getty gemacht. „Ich habe 14 andere Enkel, und wenn ich jetzt nur einen einzigen Penny zahlen würde, hätte ich bald 14 entführte Enkel“, lässt des Drehbuch J. Paul Getty sagen. Das Zitat mag verbürgt sein oder auch nicht, es passt jedenfalls vorzüglich auf einen Mann, dem Börsenkurse wichtiger waren als das Wohlbefinden seiner Familie. Dem jungen Getty wurde als Beweismittel ein Ohr abgetrennt und an seine Mutter geschickt. Aber auch das konnte den Großvater nicht erweichen. Als er schließlich doch nachgab und ein paar Säcke voller Bargeld bereitstellte, tat er das nur, weil er glaubte, die Summe von der Steuer absetzen zu können.
Man könnte J. Paul Getty leicht als einen abstoßenden Finanzkrösus darstellen. Aber Scott und Plummer bemühen sich um Differenzierungen. Weder auf Seiten der Entführer noch in den düsteren Gemächern des Öl-Tycoons verfallen sie den naheliegenden Stereotypen ähnlicher Filme. Sie lassen Raum für Gettys Isolation und seine vor der Öffentlichkeit versteckte Unsicherheit und lösen sich damit über weite Strecken vom allzu vertrauten Schema des Kidnapper-Genres, was dem Film zu erstaunlicher Spannung verhilft. Sie bringen es auch fertig, viele Szenen für aktuelle Stimmungslagen des US-amerikanischen Publikums durchlässig zu machen.
Die Egomanie und die Indifferenz gegenüber anderen Menschen, die der narzisstische Ölmilliardär an den Tag legt, erinnern gewiss nicht zufällig an politische Befindlichkeiten der US-Gegenwart. Keinen Augenblick kann man sich in Sicherheit wiegen, dass einen seine vage Erinnerung an das reale Drama vor 40 Jahren nicht trügt. Zu diesem Zweck führt der Film auch zwei weitere Personen ein, die in dem Katz-und-Maus-Spiel eine wichtige Rolle spielen: die Mutter des jungen Getty und einen Vertrauensmann des alten Einsiedlers, der ausgesandt wird, um die irritierende Geschichte zu einem raschen und billigen Ende zu bringen.
Ein Großteil der Ambivalenz, die hier über beiden Seiten der Story schwebt und das Interesse des Zuschauers wachhält, stammt von diesen Figuren, die von Michelle Williams und Mark Wahlberg sehr glaubwürdig gespielt werden. So stellt sich der Film letztlich nicht nur als Entführungsdrama dar, sondern auch als Geschichte einer höchst absonderlichen Familie, in der das viele Geld niemanden glücklich macht.
Was die formale Qualität des Films anbelangt, war eigentlich vorauszuahnen, dass der Regisseur von so unterschiedlichen Filmen wie „Blade Runner“ (fd 23 689), „Alien“ (fd 22 226), „Gladiator“ (fd 34 276) und „Thelma & Louise“ (fd 29 188) ein visuell makelloses Exemplar des Kidnapper-Genres abliefern würde. Schon die Eingangssequenz mit ihrem langsamen Hinübergleiten von Schwarzweiß in Farbe ist ein Meisterstück der bedächtig-bedachten Fotografie, die den Film in einen historischen Kontext rückt, ohne einer allgemeingültigen Interpretation im Wege zu stehen. Dass Scott aber eine stilistische Einheitlichkeit gelingen könnte, die auf ganz individuelle Weise von den gemeinhin das Genre dominierenden Actionszenen weitgehend Abstand hält, um dadurch das psychologische Drama dieser Familie in den Mittelpunkt zu rücken, war eher nicht zu erwarten. Das Zusammenwirken zweier großer alter Männer des Films, Ridley Scott und Christopher Plummer, macht „Alles Geld der Welt“ zu einem hintergründigen, unkonventionellen Film über ein konventionelles Sujet. Auch ohne Kenntnis von Kevin Spaceys Interpretation der Hauptrolle muss man im Nachhinein dankbar sein, dass ein Skandal hier auch einmal zu etwas Gutem geführt hat.