Wenn ich es oft genug sage, wird es wahr!

Komödie | Belgien/Frankreich 2016 | 87 Minuten

Regie: Xavier Seron

Ein hypochondrisch veranlagter Mittdreißiger kann sich nicht von seiner an Krebs erkrankten Mutter abgrenzen, die nur von ihrem Sohn versorgt werden will. In fünf sich grotesk steigernden Kapiteln wandelt sich die tragische Charakterkomödie zur kulturellen Klage auf den Spuren eines psychoanalytisch gewendeten Ödipus-Mythos. Die Geschichte einer misslungenen Ablösung wird mit drastisch-derbem Humor in prägnanten schwarz-weißen Bildern erzählt, wobei die virtuose Musikgestaltung die inneren Kämpfe des Protagonisten in zahlreichen Nuancen spürbar macht. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
JE ME TUE À LE DIRE
Produktionsland
Belgien/Frankreich
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Novak Prod./Tobina Film/3B Prod.
Regie
Xavier Seron
Buch
Xavier Seron
Kamera
Olivier Vanaschen
Musik
Thomas Barrière
Schnitt
Julie Naas
Darsteller
Jean-Jacques Rausin (Michel Peneud) · Myriam Boyer (Monique Peneud) · Serge Riaboukine (Darek) · Fanny Touron (Aurélie) · Benjamin Le Souef (Eric)
Länge
87 Minuten
Kinostart
14.12.2017
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Komödie
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IMDb | TMDB

Schwarzhumoriges Mutter-Sohn-Drama

Diskussion
Wenn sich Michel Peneud an seine Geburt erinnert, steigt ein bezeichnendes Bild in ihm auf. Er imaginiert sich als Baby mit blutverschmiertem Kopf, dessen Leib noch im Geburtskanal steckt. Auch wenn er noch so gerne erwachsen werden will, steckt Michel biografisch fest. Er verkörpert den noch nicht zu Ende geborenen Mann, der, obwohl bald 37 Jahre alt, noch immer an die Mutter gefesselt ist. Er kann weder seine beruflichen Ambitionen verfolgen, noch seine Beziehung zu seiner Freundin Aurélie genießen. Denn Michels Mutter ist an Brustkrebs erkrankt und erwartet von ihrem Sohn, dass er sie rundum versorgt. Regisseur Xavier Seron hat eine düstere Geschichte von einem Mann ersonnen, der sich nicht abzunabeln vermag, und der Kameramann Olivier Vanaschen hat sie in kontrastreiche Schwarz-Weiß-Bilder gekleidet. Präzise schildert der Film die Trennungsproblematik seines Anti-Helden, mit zuweilen derb-drastischer oder grotesker Komik. Paradoxerweise wandelt sich Michel dabei sogar in dem Maße der Mutter an, wie er sich der engen Beziehung zu entziehen versucht. So beginnt er, seinen Körper peinlich genau zu inspizieren. Prompt entdeckt er im hellen Schein des Badezimmerschränkchens eine kahle Stelle auf seinem Haupt und fürchtet, dass ihm, wie der Mutter durch die Chemotherapie, die Haare ausfallen. Loslassen geht mit Angst einher. Nicht nur, weil Michel auf sich zurückgeworfen ist. Sondern auch, weil er den Wunsch nach Abgrenzung gegen den Widerstand der Mutter behaupten müsste. Das jedoch traut er sich nicht. In diesem Dilemma erkennt der Film nicht nur das individuelle Unvermögen eines Mannes ohne Eigenschaften, sondern er beschreibt es auch als diskurs-getriebenes Phänomen, stimuliert von der Kultur und den „großen“ Erzählungen. In Michels Unvermögen spiegelt sich der gesellschaftliche Einfluss des psychoanalytisch überzeitlich gedeuteten Ödipus-Mythos, dem zufolge der Sohn die Schuld des inzestuösen Begehrens in sich trägt, des Selbstopfers des göttlichen Sohnes, wie im Marienkult, der die Mutter-Sohn-Beziehung überhöht. Seron erzählt die tragische Charakterkomödie aus Michels Perspektive. Sie ist als Anklage formuliert und macht die Mutter für das verfehlte Leben verantwortlich. Der Niedergang vollzieht sich in fünf Kapiteln und wird als bedrückender Countdown inszeniert, der mit der grotesken Veränderung von Michels Leiblichkeit endet. Das ikonenhaft zugespitzte Schlusstableau mokiert sich über eine verkehrte Welt, in der die Frauen von den Männern mütterliche Zuwendung und Fürsorglichkeit, das Selbstopfer der Söhne, erwarten. Während sich der Anti-Held längst in den mütterlichen Stricken verfangen hat, bestätigt einem das eigene Lachen über die schön-schaurigen Bilder, dass man noch beweglich ist, wenngleich die Nähe von Lachen und Schmerz in diesem Film produktiv irritiert. Die obsessive Beschäftigung des Anti-Helden mit der Frage, wer wen ernähren muss, zieht sich als bildnerische Idee durch den Film. Die Inszenierung schreckt dabei keineswegs vor grobem, pennälerhaftem Witz zurück. Andererseits lauert dahinter die Frustration über die Begrenztheit der Existenz. Der Anfang liegt im Einssein mit der Mutter und setzt sich im Stillen fort. Die Szenen werden symbolhaft durch die runde Form der Mutterbrust miteinander verbunden. Immer wieder heben sie auf den Zusammenhang von Nähren, Leben, Tod und Vergeblichkeit ab. Die beschädigte, sich durch den Krebs selbst verzehrende Mutterbrust wird in den Brüsten der Freundin gespiegelt, die Michel jedoch kaltlassen, während in der Anschlussszene zwei Eier appetitlich in der Pfanne brutzeln und er gewissermaßen als Surrogat die Milch mit einem Strohhalm aus einem Tütchen saugt. Das bildhafte Spiel mit dem Runden setzt sich im drehenden Rad seines Fitnessgerätes fort, dem Laufrad einer Ratte oder einer Reifen-Schaukel, in der Michel feststeckt, und wird schließlich in eine Kreisbewegung der Kamera überführt, womit der Film Nietzsches „ewige Wiederkunft des Gleichen“ zitiert. So nimmt der Held schließlich stoisch sein Schicksal an. Über die Kämpfe, die weiterhin in seinem Inneren toben, gibt der nuancierte Soundtrack meisterhaft Auskunft. Er unterlegt den Rhythmus des Films virtuos; seine Spannweite umfasst ein Spektrum von elektronischen Klängen bis hin zu herzergreifender Barockmusik, etwa Henry Purcells Arie „What power art thou?“, die Michels Affektsturm, seine Verzweiflung und Erstarrung nachfühlbar machen.
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