Wenn es etwas gibt, was viele Filme aus dem Pixar Studio auszeichnet und von anderen CGI-Animationen unterscheidet, dann sind das jene Momente, in denen eine tiefe, herzergreifende Menschlichkeit ins Spiel kommt. Szenen wie jene aus „Toy Story 3“, in der auf einmal nicht mehr nur über Spielzeugpuppen mit einem Eigenleben erzählt wird, sondern über Erinnerungen, den Abschied von der Kindheit und das Älterwerden. Wie jene aus „Oben“, in der in einer dialoglosen, ungemein berührenden Montagesequenz das ganze Leben eines alten Paars mit all seinen Höhen und Tiefen gezeigt wird. Oder wie nun in „Coco“, wenn ein zwölfjähriger Junge seiner dementen Ur-Oma, die ihre Umwelt nur noch durch einen dichten Schleier wahrzunehmen scheint und nahezu reglos in einem Rollstuhl sitzt, ein Lied vorsingt, das eine Tür zu deren Vergangenheit öffnet und zugleich offenbart, wie eng der Junge mit seiner Ur-Oma verbunden ist.
Coco lautet der Name dieser Ur-Oma, die zwar die Titelheldin des Films ist, aber eigentlich nur eine Nebenrolle spielt. Sie ist das älteste Mitglied einer großen mexikanischen Familie, die sich einen Namen im Schuhgeschäft gemacht hat. Und sie ist die Tochter jenes Mannes, der schuld daran ist, dass man in dieser Familie Musik verabscheut. Cocos Vater war die Musik wichtiger als seine Familie. Irgendwann ging er fort und kam nie wieder. Nur noch ein Torso erinnert auf dem Hochzeitsfoto an die Existenz dieses Mannes; sein Gesicht wurde abgetrennt.
Unter dem Musikbann leidet der zwölfjährige Miguel am meisten. Er soll Schuhmacher werden, wenn es nach seiner Oma und seinen Eltern geht. Doch in Wirklichkeit wäre er viel lieber ein Musiker. Als er Hinweise darauf findet, dass es sich bei Cocos Vater um den legendären mexikanischen Musiker Ernesto de la Cruz handelt, den er über alles verehrt, und Miguel kurz vor den jährlichen Festlichkeiten um den „Día de los Muertos“, den Tag der Toten, eine Gitarre seines Idols in die Hände fällt, geschieht etwas Seltsames. Plötzlich findet sich Miguel im Jenseits wieder. In die Welt der Lebenden kann er nur zurückkehren, wenn einer seiner verstorbenen Verwandten sich für ihn einsetzt. Miguels Ururgroßmutter Mamá Imelda könnte dies tun. Aber sie stellt eine Bedingung. Miguel soll seinen Wunsch aufgeben, Musiker zu werden.
Kein gruseliges Totenreich
Etwas bemüht wirkt Miguels Übertritt ins Totenreich. Aber sobald der Junge die Schwelle zwischen Leben und Tod überschritten und die mit abertausenden orangefarbenen Blättern bedeckte Brücke überquert hat, überwältigt der Film mit unglaublich detaillierten Tableaus voller leuchtender Farben. Diese von allerlei Skeletten und mythischen Tieren bewohnte Welt ist alles andere als gruselig; parallel zum Día de los Muertos wird hier eine große Party gefeiert. Und viele machen sich auch auf den Weg, um ihre noch lebenden Verwandten an den Festtagen zu besuchen – sofern sie es noch können. Bald trifft Miguel auf Hector, dem die Zeit wegläuft. Seine Familie in der Welt der Lebenden droht ihn zu vergessen. Wenn dies geschieht, ist es auch mit dem Leben nach dem Tod vorbei.
Um den Wert von Erinnerungen geht es bald in „Coco“, um das unsichtbare Band, das die Menschen mit ihren Vorfahren verbindet, um den Wunsch, Spuren zu hinterlassen, um ein Bewusstsein von Familiengeschichte. Ganz sanft streut der Film die ernsten Untertöne in seine Geschichte, die zunächst von Schauwerten bestimmt wird, mit viel Liebe zum Detail die Bräuche rund um den Tag der Toten darstellt und auch durch die Musik die mexikanische Kultur aufleben lässt. Schwung erhält der Film unterdessen durch den rebellischen Miguel, der sich seine Träume nicht verbieten lassen will. Auf eigene Faust macht er sich, getarnt als Skelett, auf den Weg durch das Land der Toten. Niemand geringeres als Ernesto, der auch im Jenseits ein Star ist, soll ihm dabei helfen, wieder ins Reich der Lebenden zurückzukehren. Aber der erweist sich als anders, als Miguel es sich erhofft hatte.
Obwohl Miguel alles zu verlieren hat, seinen Traum, seine Familie und sogar sein Leben, wenn er nicht vor Sonnenaufgang das Land der Toten wieder verlässt, bleibt ausgerechnet diese Figur ein wenig blass. Miguels Figur fehlt das Außergewöhnliche, das etwa die Freude in „Alles steht Kopf“ oder den fast stummen Roboter WALL-E ausgezeichnet. Durch seine Träume, den Wunsch, seinen eigenen Weg zu gehen und die Auflehnung gegen die Vorschriften seiner Familie stellt er zwar eine gute Identifikationsfigur für ein junges Publikum dar. Aber richtig zu Herzen gehen die Nebenfiguren. So ist es überaus stimmig, dass die liebenswerte Greisin Coco mit ihren tiefen Falten die Titelfigur des Films ist. Zu ihr führt die Geschichte zurück. Sie ist das emotionale Zentrum des Films, der die Geschichte einer Familie entfaltet, die sich über mehrere Generationen erstreckt, und diese zu einer Einheit werden lässt.