Auf den neuen Film von Naomi Kawase könnte zutreffen, was Agnès Varda über die Bedeutung der Fotografie für ihr Filmschaffen sagte: „Die Fotografie hört nicht auf, mir beizubringen, wie man Filme macht.“ Auch in „Radiance“ ist es ein Fotograf, der das Verständnis der Hauptfigur für das Wesen der Filmkunst entscheidend erweitert. Misako Ozaki ist von Beruf Audiodeskriptorin. Damit sehbehinderte Menschen Filme akustisch wahrnehmen können, beschreibt sie, was auf der Leinwand passiert. Eine kleine Expertenrunde nimmt ihre Hörfassungen ab. Doch ihre neueste Wiedergabe eines Films, in dem es auch um den möglichen Todeswunsch eines alten Mannes geht, kommt beim Gremium gar nicht gut an. Insbesondere der Fotograf Masaya Nakamori findet Misakos Beschreibung aufdringlich. Dass sie dem Zuschauer am Ende Hoffnung machen wolle, gebe doch nur ihr subjektives Gefühl wieder. Er, Nakamori, dessen Augenlicht durch eine Krankheit gerade zu erlöschen droht, fühle sich von ihrer wohlmeinenden Interpretation ausgeschlossen. Die Audiodeskription lasse ihm keinen Raum, seinen eigenen, vielfarbigen Empfindungen nachzuhängen. Damit aber verfehle sie den eigentlichen Kern des filmischen Mediums.
Bestürzt über diese Kritik, macht sich Misako daran, das Spezifische der Siebenten Kunst herauszufinden, um durch eine uneigentlichere Sprache eine vergleichbar sinnlich erfahrbare Vorstellungswelt zu evozieren. Sie lernt dabei auch den Fotografen kennen, setzt sich mit seinem Werk auseinander und sucht zudem den Regisseur des Films auf. Die neuen Einsichten verändern ihren akustischen Text.
Die japanische Filmemacherin Naomi Kawase befasst sich in ihrem philosophisch grundierten Werk erneut mit dem Thema körperlicher Versehrtheit und reflektiert zugleich die Eigentümlichkeit des Mediums Film. Dabei bleibt sie nicht auf der Seite der Urheber stehen, die ihr Produkt mit der Veröffentlichung zur Deutung freigegeben haben, sondern widmet sich vor allem den Rezipienten. Das in „Radiance“ dargestellte Verfahren einer dichten Beschreibung weist in Analogie zur Audiodeskription auch auf die Rolle der Filmkritik hin. Auch sie kleidet einen Film in Worte, um ihn dem Zuschauer näher zu bringen. Und auch ihr stellt sich stets die Frage: Wie lässt sich das Gesehene adäquat formulieren, ohne dessen eigene Ausdrucksweise, den audiovisuell geschaffenen Vorstellungs- und Gefühlsraum zu zerstören.
Solche Empfindsamkeit erringt man bei Kawase nur durch Verlust. Der Fotograf ist dabei, sein Augenlicht zu verlieren. Und die Audiodeskriptorin hat den Tod ihres Vaters zu verschmerzen – eine Verlusterfahrung, die durch den Film im Film nochmals gespiegelt wird. Aus der beschädigten Existenz treibt eine besondere menschliche Qualität hervor, da sie für Empfindungen außerordentlich durchlässig macht. So erwächst den Blinden ihre Stärke gerade daraus, was in den Augen der nichtbehinderten Menschen als Mangel erscheint. Es ist die scheinbar gesunde Misako, die nicht „sehen“ lernte, während die Blinden eine große Vorstellungskraft entwickelt haben. Sie geben sich ganz den Geräuschen und Worten hin und wollen mit ihrer Kritik Misakos Sensorium für die zentralen Darstellungsmittel schärfen.
Dieses „Programm“ wendet der Film in geradezu verschwenderischer Weise selbst an. „Radiance“ lebt von Atmosphäre und Stimmung. Die Inszenierung modelliert durch warmes oder kaltes, strahlendes oder gedämpftes Licht, lässt Farben leuchten, Oberflächen erglänzen oder die Schatten ein betörendes Spiel treiben. Aus den vielen Großaufnahmen soll der Zuschauer die Gemütsverfassung der Figuren herauslesen. Als Kontrast zu den Geräuschen der Zivilisation drängen die Stimmen der Natur in den Mittelpunkt, wenn der Wind in den Bäumen raschelt. Das mögen manche übertrieben, sentimental oder sogar kitschig finden. Aber der Film lässt sinnbildlich daran teilhaben, wie die Hauptfigur nach und nach ihren Schönheitssinn entwickelt; der Fotografie einer blutrot hinter dem Horizont verschwindenden Sonne kommt hierfür eine wichtige Rolle zu.
In anrührenden Szenen wird deutlich, wie Bilder es schaffen, den Betrachter in seiner Fantasie an ambivalent besetzte Orte zu führen. Dadurch wird Trauer möglich, aber auch die Erinnerung an wunderschöne Momente. Das ist der „Glanz in den Augen“ der Zuschauer.