Jeder Mensch hat seine Geheimnisse, manchmal auch seine Lügen. Unn Tuve etwa macht sich etwas vor, als sie einen Mann heiratet, den sie eigentlich nicht will. Ein netter Mann, verlässlich, bodenständig, nicht so unstet und unwiderstehlich wie Kristian, mit dem sie nicht leben will, den sie aber auch nicht loslassen kann und mit dem sie an ihrem Hochzeitstag während der Feierlichkeiten auf der Toilette verschwindet.
Was dort geschieht, wird niemand erfahren, denn all das verliert an Bedeutung, als Unn Tuve im Nebenzimmer ein Baby findet. Eben entbunden und noch ganz blutverschmiert liegt das Mädchen auf den Fliesen. Von der Mutter keine Spur. Die Kleine kommt ins Krankenhaus, Unn Tuve aber wird abgewimmelt, und bald ist alles nur noch eine kuriose Geschichte von damals – bis 16 Jahre später Rosemari auftaucht. Beharrlich drängt sich der Teenager ins Leben der mittlerweile geschiedenen Frau und Mutter zweier Töchter. Die Gründe dafür klären sich bald auf: Rosemari, das Findelkind von einst, will herausfinden, wer ihre leibliche Mutter ist, und glaubt sie in Unn Tuve gefunden zu haben. Die ist als Journalistin des lokalen Fernsehsenders immer für eine aufregende Story zu haben. Sie hilft Rosemari bei der Suche und dokumentiert alles mit der Kamera.
An „Rosemari“ klebt das Etikett „Frauenfilm“. Keine Schmonzette, keine Romanze, sondern die komplexe Geschichte von drei Frauen – Unn Tuve, Rosemari und die abwesende Mutter –, deren Schicksale auf ungeahnte und recht seltsame Weise miteinander verbunden sind. Die Journalistin und das Mädchen sind Detektive in eigener Sache. Rosemari, die ihre Verletzlichkeit hinter einem burschenhaften Auftreten verbirgt, will ihre leibliche Mutter und das Geheimnis ihrer Herkunft lüften. Wenn sie herausgefunden hat, woher sie kommt, hofft sie auch zu wissen, wer sie ist. Dann ist sie nicht mehr nur das zurückgelassene Baby, das ehemalige Heimkind, die Pflegetochter von Hanne. Dann kann sie womöglich mehr bestimmen, wer sie ist. Ein nachvollziehbarer Wunsch. Die Suche nach der Mutter wird zu einer Reise zu sich selbst, aber nicht nur für das Mädchen, sondern auch für ihre erwachsene Begleiterin. Denn auch Unn Tuve wird mit ihrer eigenen Vergangenheit und vor allem mit ihrer ungelebten Liebe zu Kristian konfrontiert. Wie das Leben eben so spielt: Man trifft Entscheidungen, die einen zeichnen und die man später manchmal auch bereut.
Die norwegische Regisseurin Sara Johnsen hat ihren vierten Spielfilm, der im Original den mehrdeutigen Titel „Framing Mom“ trägt, nach ihrem eigenem Drehbuch realisiert und dafür Figuren entworfen, die nicht wie vom Reißbrett wirken. Rosemari und die anderen sind keine Überfrauen, sondern Menschen mit Fehlern und Macken, die auch mal irrational handeln und als Charaktere nicht immer nachvollziehbar sind. Nicht alles wird auserzählt. Die Filmemacherin setzt geschickt Ellipsen und Rückblenden ein, so dass man die erzählerischen Versatzstücke wie Puzzleteile zusammenfügen muss und sich einen eigenen Reim darauf machen kann. Getragen wird der Film von präsenten Schauspielerinnen, etwa von Ruby Dagnall, die erstmals vor der Kamera stand. Ihre Rosemari ist störrisch, linkisch, aber auch enorm verstört, weil ihre Mutter sie offenbar nicht wollte. Wie soll sie damit umgehen?
Die Zurückweisung und die Suche nach einer Wahrheit, mit der Rosemari leben kann, würden eigentlich genügend Stoff bieten und jede Menge Fragen aufwerfen. Doch Johnsen hat ihrer Titelfigur eine Geschichte angedichtet, die in ihrer Ungeheuerlichkeit wie für eine Fernsehshow gemacht ist, wo auch das Verrückteste und Privateste nach außen gekehrt wird. Im Epilog sitzt Rosemari denn auch folgerichtig im Fernsehstudio. „Wir sind so viel mehr als unsere Geschichte“, resümiert sie, als wolle sie den Film auf seine eigene Widersprüchlichkeit hinweisen.