Die wunderschöne ländliche Kulisse ist gänzlich durcheinandergeraten. Die jahrhundertealten Gräber auf dem Dorffriedhof reißen auf, Gebäude stürzen ein. Es scheint, als wollten die tiefe Risse und Abgründe im englischen Rasen den Jungen, der durch die Luft wirbelt, verschlingen. Aber dann wird er von einem großen Baum, einer uralten Eibe mit rotglühenden Augen, festgehalten.
Conors vertraute Welt ist im Zusammenbruch begriffen: erst die Scheidung der Eltern, dann die Krankheit der Mutter. Ihn quälen schreckliche Albträume. Eines Tages aber tritt zu später Stunde ein Monster in sein Zimmer, eben jener große unfreundliche Baum. Er kommt immer wieder, stets sieben Minuten nach Mitternacht, um ihm seltsame Geschichten zu erzählen, die Conors Vorstellungen von Gut und Böse durcheinanderbringen. Mehr noch, er will ihn zwingen, sich mit seinen geheimsten Ängsten auseinanderzusetzen. Und die haben mit seiner Mutter zu tun, die unheilbar an Krebs erkrankt und nicht ganz ehrlich mit ihm ist.
Umso ehrlicher und sehr hart ist hingegen seine Großmutter; die energische Dame hat sein künftiges Leben schon verplant. Der Vater ist weit weg in Amerika, er hat dort eine neue Familie und will seinen Sohn nicht zu sich nehmen. In der Schule wird Conor gemobbt, verprügelt oder bemitleidet, was für ihn noch schlimmer ist. Niemand ist mit Conor befreundet. Dem Jungen wird langsam bewusst, dass das Baummonster das einzige Wesen ist, das ihn versteht und kennt. Über das Monster lernt der Junge, seine fürchterliche Wut, Enttäuschung und Zerstörungslust auszuleben, auch wenn er bei seiner Selbstverteidigung weit über das Ziel hinausschießt.
Der Film beruht auf dem Roman von Patrick Ness, der auf das Fragment seiner Schriftsteller-Kollegin Siobhan Dowd zugriff, die das Buch wegen ihres Krebstodes nicht beenden konnte. Buch und Film erzählen davon, wie ein Kind mit dem langsamen Tod der eigenen Mutter und seiner tiefen Einsamkeit umgehen kann, und wie Monster und Gespenster, die unsere eigene Fantasie erschaffen hat, dabei helfen, eine unerträgliche Wirklichkeit zu ertragen.
„Sieben Minuten nach Mitternacht“ war 2016 der erfolgreichste Film in den spanischen Kinos. Das ist für Juan Antonio Bayona nichts Neues, da schon der Schauerfilm „Das Waisenhaus“ (2007,
(fd 38 581)) und das Tsunami-Drama „The Impossible“ (2012,
(fd 41 516)) Kassenschlager in den spanischen Kinos waren. Bayona ist ein Meister des Grusel- und Katastrophenfilms, ein Virtuose erdrutschartiger Bewegungen und Effekte. Er hat wenig mit den gängigen Stereotypen des spanischen Films am Hut; „The Impossible“ basierte beispielsweise auf der wahren Geschichte einer spanischen Familie, die sich nach dem Tsunami tagelang durch die thailändischen Sümpfe schlug; Bayona aber machte daraus eine US-amerikanische Familie, weil das international erfolgreicher ist.
Auch „Sieben Minuten nach Mitternacht“ wirkt auf den ersten Blick wie eine einschlägige Tolkien-Verfilmung für ein weltweites Publikum. Aktuell arbeitet der Regisseur an „Jurassic World II“; Steven Spielberg hat den 41-Jährigen persönlich als Regisseur für die vierte Fortsetzung von „Jurassic Park“
(fd 30 396) ausgewählt. Bayona steht für klassisches Genre-Kino mit all seinen visuellen und dramatischen Stereotypen, doch gleichzeitig besitzen seine Filme Momente tiefer Katharsis. „Sieben Minuten nach Mitternacht“ ist durchaus auch ein Film über therapeutische Funktionen, über die Fähigkeit, etwas Unvermeidliches wie den Tod in etwas Versöhnliches zu verwandeln, seinen Frieden mit dem Allerschrecklichsten zu machen und einen geliebten Menschen im Sterben loslassen zu können.