Eine bessere Pflegemutter als Bella hätte Ricky Baker sich nicht vorstellen können. Liebevoll kümmert sie sich um den dreizehnjährigen Jungen, der als schwierig gilt und von einer Familie zur nächsten gereicht wurde. Jetzt hat die Kinderfürsorge ihn zu Bella und ihrem schweigsamen Mann Hec gebracht, die auf einer abgelegenen Farm in Neuseeland leben. Vorbereitete Wärmflaschen im Bett, Pfannkuchen zum Frühstück und ein aufmunterndes Geburtstagsständchen: so etwas kannte Ricky bislang nicht. Doch kaum hat Ricky sich an seine neuen Eltern gewöhnt, stirbt Bella plötzlich und Ricky soll schon wieder in eine andere Familie gebracht werden.
Weil er sich nicht länger herumschubsen lassen möchte, nimmt Ricky sein Leben kurzerhand selbst in die Hand. Allein und unbedarft flieht der dicke, unsportliche Junge in die Wildnis – und scheitert wie erwartet. Bald muss er sich mit Hec verbünden, dem der redselige Junge zunächst eine Bürde ist, bald Polizisten, Rangern und Helikoptern der Armee ausweichen, die nach den beiden Ausreißern suchen und Hec sogar für einen Entführer halten. »Leave no kid behind« wiederum lautet das Motto der energischen Sozialarbeiterin Paula, die sich an die Fersen von Ricky und Hec heftet. Und wenn es um das Glück von Ricky geht (oder das, was sie für dessen Glück hält), kennt Paula keinen Spaß.
Aberwitzige Szenen und Dialoge und vor allem eine tiefe Menschlichkeit: das sind die Eckpunkte der Filme von Taika Waititi (»5 Zimmer, Küche, Sarg«, demnächst »Thor: Ragnarök«) seit seinem preisgekrönten Kurzfilm »Two Cars, One Night« über zwei Maori-Kinder, die sich in einem rotzigen verbalen Schlagabtausch kennenlernen, während ihre Väter sich in einem Pub betrinken. Nun hat Waititi frei nach dem Roman »Wild Pork and Watercress« von Barry Crump ein Road Movie ohne Straßen gedreht und – erneut – eine Liebeserklärung an seine Heimat Neuseeland und deren Bewohner, ein Buddy Movie und einen Coming-of-Age-Abenteuerfilm. Und wieder einmal stehen zwei grundverschiedene Figuren im Mittelpunkt, die sich erst einmal zusammenraufen und Gemeinsamkeiten finden müssen.
Sonderlich originell mag das nicht klingen. Aber Waititi erzählt diese bekannte Geschichte zweier Außenseiter derart charmant und leichtfüßig, dass man sich ihr schwer entziehen kann, und wechselt fließend zwischen absurder Komik und Drama. So skurril die Situationen auch werden, so grundehrlich und authentisch wirken die beiden Hauptfiguren. Ricky und Hec, großartig gespielt von Nachwuchsdarsteller Julian Dennison und Altstar Sam Neill, haben Ecken und Kanten und sind alles andere als perfekt. Zudem sind die Rollen von Schüler und Lehrer weitaus nicht so klar verteilt, wie es zunächst den Anschein hat. Immer wieder gelingen Waititi ruhige Szenen, in denen eine ungeahnte Tiefe hinter den Figuren zum Vorschein kommt und zu spüren ist, dass es hier trotz aller Lust an der Übertreibung ganz grundsätzlich um die Bedeutung von familiärer Geborgenheit geht – und was es bedeutet, wenn diese nicht gegeben ist.
Mit einer großen Freude verneigt sich Waititi augenzwinkernd vor den Filmen von Peter Weir, vor George Millers »Mad Max«-Reihe und Peter Jacksons »Herr der Ringe«-Trilogie, macht zwei liebenswerte Figuren zu Outlaws und eine Sozialarbeiterin zum Cop nach Hollywood-Vorbild, während der Soundtrack bisweilen an Achtziger-Jahre-Synthie-Pop erinnert und dem Film eine gewisse Nostalgie und Melancholie verleiht. »Wo die wilden Menschen jagen« ist ebenso aus der Zeit gefallen wie mitten in der Welt verortet. Oder besser: Im neuseeländischen Busch.